... wir uns 1938 gewehrt hätten?
Am 12. März jährt sich der Tag des deutschen Einmarsches zum 80. Mal. Österreichs Militär hätte den Vormarsch verzögern können. Vermutlich wäre es dann zum Bürgerkrieg gekommen.
Am frühen Morgen des 12. März 1938 ist es so weit: Um 4 Uhr früh überschreiten die ersten deutschen Soldaten auf der Straße von Lindau nach Bregenz die österreichische Grenze. Eineinhalb Stunden später passieren Einheiten der 8. Armee bei Passau und Schärding den Inn. Auf Gegenwehr stoßen sie nicht. Im Gegenteil: Die deutschen Soldaten werden mit Jubel begrüßt, sodass sich manch einer von ihnen wundert, mit so viel „Liebe und Begeisterung“empfangen zu werden. Der österreichische Bundeskanzler Kurt Schuschnigg hat zuvor, am Abend des 11. März, via Rundfunk angekündigt, Österreich werde im Fall eines Einmarsches der deutschen Wehrmacht keinen Widerstand leisten, um kein „deutsches Blut“zu vergießen. Am Ende verabschiedete er sich „mit einem deutschen Wort und einem Herzenswunsch: Gott schütze Österreich!“. Musste das so sein? Oder hätte sich Österreich erfolgreich wehren können? Militärisch gesehen war Österreich in mehrerlei Hinsicht unterlegen. Es gab große Mängel bei der Artillerie und der Flugabwehr. Auf ein österreichisches Panzerfahrzeug kamen rund zehn deutsche. Das Bundesheer hatte nicht genug schwere Infanteriewaffen und es herrschte Munitionsknappheit. Auf die österreichischen Truppen und ihre Offiziere schien dennoch Verlass zu sein. Einen Befehl der Regierung zur Verteidigung der Grenzen hätte das Bundesheer vermutlich ausgeführt. Österreich hätte sich also zur Wehr setzen können – die später von der Politik strapazierte Opferthese hätte dann glaubwürdiger geklungen.
Was aber wäre passiert, wenn die Österreicher tatsächlich auf die Deutschen geschossen hätten?
Vier bis fünf Wochen hätten Bundesheer und Frontmiliz (der militärische Arm der Vaterländischen Front) das Vorrücken der Wehrmacht nach Wien vermutlich verzögern können, sagt der Militärhistoriker Christian Ortner, Direktor des Heeresgeschichtlichen Museums Wien. Theoretisch standen nach einer Mobilisierung dem Bundesheer samt Reserve und Frontmiliz rund 160.000 Mann zur Verfügung. Es gab jedoch in Österreich Versorgungsengpässe, vor allem bei der Munition. Die deutsche 8. Armee wäre mit ihren rund 100.000 Mann im ersten Ansatz gegen einen abwehrbereiten österreichischen Gegner wohl „hängen geblieben“. Allerdings schränkt Ortner ein: „Wir können annehmen, dass die deutsche Wehrmacht dann neben der schon bereiten zweiten Staffel auch noch zusätzliche Verbände nachgeschoben hätte.“Dazu kommt, dass Teile der Bundesheer-Streitkräfte – etwa die Flugabwehr – Anfang März zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung in der Steiermark im Einsatz standen. Diese Kräfte hätten dann an den Grenzen zu Deutschland gefehlt. Ausländische Unterstützung im Kampf gegen Hitler-Deutschland wäre nicht zu erwarten gewesen.
Der Druck auf Österreich hatte seit Adolf Hitlers Machtergreifung in Deutschland im Jänner 1933 immer mehr zugenommen. Die Nazis verübten in den 1930er-Jahren Terroranschläge und unternahmen 1934 einen Putschversuch. Hitler schädigte mit der 1000-Mark-Sperre den heimischen Tourismus und erzwang mit dem Juli-Abkommen 1936 ein Entgegenkommen der österreichischen Regierung. Kanzler Schuschnigg nahm schließlich im Februar 1938 nationalsozialistische Minister in sein Kabinett auf, in der Hoffnung, den Druck zu reduzieren. Und er unternahm einen letzten, verzweifelten Versuch zur Rettung Österreichs: Er kündigte am 9. März eine Volksbefragung für ein „freies“Österreich an.
Hitler kam dem zuvor und ließ die Wehrmacht am Morgen des 12. März einmarschieren. Schon zuvor war es in mehreren Bundesländern zu Machtergreifungen „von innen“gekommen – und zwar noch bevor Bundespräsident Wilhelm Miklas am späten Abend des 11. März den Nationalsozialisten Arthur Seyß-Inquart zum Bundeskanzler bestellte.
Dass die Österreicher am 12. März nicht auf die vorrückende Wehrmacht geschossen haben, sorgte im Nachhinein immer wieder für Kritik. Allerdings war Österreichs Handlungsspielraum gering: „In der politischen Situation des Jahres 1938 wäre militärischer Widerstand gegen einen deutschen Einmarsch nicht ohne gleichzeitigen Ausbruch eines Bürgerkrieges möglich gewesen“, schreibt der Historiker Erwin Schmidl in seinem Buch über den „Anschluss“Österreichs (erschienen im Bernard & Graefe Verlag).
Einen bis zum Letzten gehenden, unerbittlichen Widerstand gegen die Wehrmacht hätte man vom Bundesheer ohnehin nicht erwarten können, betont der Salzburger Historiker Ernst Hanisch. „Es waren auch im Bundesheer viele Nationalsozialisten tätig, gerade bei den jüngeren Offizieren.“Auch Nationalsozialismus-Experte Hanisch glaubt, dass bei einer österreichischen Gegenwehr die heimischen Nationalsozialisten zu den Waffen gegriffen hätten und ein Bürgerkrieg ausgebrochen wäre. Der hätte jedoch vermutlich nicht lange gedauert, weil die Österreicher die Grenzen nicht lange hätten halten können. „Das Bundesheer hätte gegen die deutsche Wehrmacht relativ wenig ausrichten können.“Freilich, nach dem Zweiten Weltkrieg wäre Österreich im Fall einer Gegenwehr besser dagestanden.
Man dürfe in der Diskussion um den unterbliebenen Widerstand am Tag des Einmarsches aber nicht die Stimmungslage in der Bevölkerung außer Acht lassen, sagt Hanisch mit Verweis auf die Worte eines österreichischen Holzknechts, der meinte: „Die Deutschen haben den braunen Faschismus und haben zu fressen. Bei uns herrscht der schwarze Faschismus und wir haben nichts zu fressen.“Das drücke, sagt Hanisch, die „weitverbreitete Meinung exakt, wenn auch ordinär aus“.
Bleibt die Frage nach dem „symbolischen“Widerstand, den Österreich möglicherweise hätte leisten können, um nach dem Zweiten Weltkrieg besser dazustehen. Erwin Schmidl hält dem entgegen, dass ein solcher „symbolischer“Widerstand in der Praxis nicht möglich gewesen wäre. „Das würde nämlich bedeuten, dass die politische Führung lediglich der ,symbolischen‘ Wirkung wegen (bzw. im Interesse des eigenen Ruhms in den Augen der Nachwelt) Soldaten in den Tod schickt.“Bei einem solchen Szenario wäre Oberösterreich zu einem Schlachtfeld geworden und mindestens zwei österreichische Divisionen zum großen Teil aufgerieben worden.
Allerdings stellt sich die „Was-wärewenn“-Frage aus der Sicht Schmidls ohnehin früher – in den Stunden vor dem Einmarsch. Denn dieser hätte am 12. März so nicht stattgefunden, wenn nicht die Nationalsozialisten schon im Verlauf des vorangegangenen Tages – unter massivem deutschen Druck – die Macht in Österreich an sich gerissen hätten. Schmidl: „Der Einmarsch fand in dieser Form nur statt, weil kein Widerstand mehr zu erwarten war.“