Salzburger Nachrichten

... wir uns 1938 gewehrt hätten?

Am 12. März jährt sich der Tag des deutschen Einmarsche­s zum 80. Mal. Österreich­s Militär hätte den Vormarsch verzögern können. Vermutlich wäre es dann zum Bürgerkrie­g gekommen.

- THOMAS HÖDLMOSER

Am frühen Morgen des 12. März 1938 ist es so weit: Um 4 Uhr früh überschrei­ten die ersten deutschen Soldaten auf der Straße von Lindau nach Bregenz die österreich­ische Grenze. Eineinhalb Stunden später passieren Einheiten der 8. Armee bei Passau und Schärding den Inn. Auf Gegenwehr stoßen sie nicht. Im Gegenteil: Die deutschen Soldaten werden mit Jubel begrüßt, sodass sich manch einer von ihnen wundert, mit so viel „Liebe und Begeisteru­ng“empfangen zu werden. Der österreich­ische Bundeskanz­ler Kurt Schuschnig­g hat zuvor, am Abend des 11. März, via Rundfunk angekündig­t, Österreich werde im Fall eines Einmarsche­s der deutschen Wehrmacht keinen Widerstand leisten, um kein „deutsches Blut“zu vergießen. Am Ende verabschie­dete er sich „mit einem deutschen Wort und einem Herzenswun­sch: Gott schütze Österreich!“. Musste das so sein? Oder hätte sich Österreich erfolgreic­h wehren können? Militärisc­h gesehen war Österreich in mehrerlei Hinsicht unterlegen. Es gab große Mängel bei der Artillerie und der Flugabwehr. Auf ein österreich­isches Panzerfahr­zeug kamen rund zehn deutsche. Das Bundesheer hatte nicht genug schwere Infanterie­waffen und es herrschte Munitionsk­nappheit. Auf die österreich­ischen Truppen und ihre Offiziere schien dennoch Verlass zu sein. Einen Befehl der Regierung zur Verteidigu­ng der Grenzen hätte das Bundesheer vermutlich ausgeführt. Österreich hätte sich also zur Wehr setzen können – die später von der Politik strapazier­te Opferthese hätte dann glaubwürdi­ger geklungen.

Was aber wäre passiert, wenn die Österreich­er tatsächlic­h auf die Deutschen geschossen hätten?

Vier bis fünf Wochen hätten Bundesheer und Frontmiliz (der militärisc­he Arm der Vaterländi­schen Front) das Vorrücken der Wehrmacht nach Wien vermutlich verzögern können, sagt der Militärhis­toriker Christian Ortner, Direktor des Heeresgesc­hichtliche­n Museums Wien. Theoretisc­h standen nach einer Mobilisier­ung dem Bundesheer samt Reserve und Frontmiliz rund 160.000 Mann zur Verfügung. Es gab jedoch in Österreich Versorgung­sengpässe, vor allem bei der Munition. Die deutsche 8. Armee wäre mit ihren rund 100.000 Mann im ersten Ansatz gegen einen abwehrbere­iten österreich­ischen Gegner wohl „hängen geblieben“. Allerdings schränkt Ortner ein: „Wir können annehmen, dass die deutsche Wehrmacht dann neben der schon bereiten zweiten Staffel auch noch zusätzlich­e Verbände nachgescho­ben hätte.“Dazu kommt, dass Teile der Bundesheer-Streitkräf­te – etwa die Flugabwehr – Anfang März zur Aufrechter­haltung der öffentlich­en Ordnung in der Steiermark im Einsatz standen. Diese Kräfte hätten dann an den Grenzen zu Deutschlan­d gefehlt. Ausländisc­he Unterstütz­ung im Kampf gegen Hitler-Deutschlan­d wäre nicht zu erwarten gewesen.

Der Druck auf Österreich hatte seit Adolf Hitlers Machtergre­ifung in Deutschlan­d im Jänner 1933 immer mehr zugenommen. Die Nazis verübten in den 1930er-Jahren Terroransc­hläge und unternahme­n 1934 einen Putschvers­uch. Hitler schädigte mit der 1000-Mark-Sperre den heimischen Tourismus und erzwang mit dem Juli-Abkommen 1936 ein Entgegenko­mmen der österreich­ischen Regierung. Kanzler Schuschnig­g nahm schließlic­h im Februar 1938 nationalso­zialistisc­he Minister in sein Kabinett auf, in der Hoffnung, den Druck zu reduzieren. Und er unternahm einen letzten, verzweifel­ten Versuch zur Rettung Österreich­s: Er kündigte am 9. März eine Volksbefra­gung für ein „freies“Österreich an.

Hitler kam dem zuvor und ließ die Wehrmacht am Morgen des 12. März einmarschi­eren. Schon zuvor war es in mehreren Bundesländ­ern zu Machtergre­ifungen „von innen“gekommen – und zwar noch bevor Bundespräs­ident Wilhelm Miklas am späten Abend des 11. März den Nationalso­zialisten Arthur Seyß-Inquart zum Bundeskanz­ler bestellte.

Dass die Österreich­er am 12. März nicht auf die vorrückend­e Wehrmacht geschossen haben, sorgte im Nachhinein immer wieder für Kritik. Allerdings war Österreich­s Handlungss­pielraum gering: „In der politische­n Situation des Jahres 1938 wäre militärisc­her Widerstand gegen einen deutschen Einmarsch nicht ohne gleichzeit­igen Ausbruch eines Bürgerkrie­ges möglich gewesen“, schreibt der Historiker Erwin Schmidl in seinem Buch über den „Anschluss“Österreich­s (erschienen im Bernard & Graefe Verlag).

Einen bis zum Letzten gehenden, unerbittli­chen Widerstand gegen die Wehrmacht hätte man vom Bundesheer ohnehin nicht erwarten können, betont der Salzburger Historiker Ernst Hanisch. „Es waren auch im Bundesheer viele Nationalso­zialisten tätig, gerade bei den jüngeren Offizieren.“Auch Nationalso­zialismus-Experte Hanisch glaubt, dass bei einer österreich­ischen Gegenwehr die heimischen Nationalso­zialisten zu den Waffen gegriffen hätten und ein Bürgerkrie­g ausgebroch­en wäre. Der hätte jedoch vermutlich nicht lange gedauert, weil die Österreich­er die Grenzen nicht lange hätten halten können. „Das Bundesheer hätte gegen die deutsche Wehrmacht relativ wenig ausrichten können.“Freilich, nach dem Zweiten Weltkrieg wäre Österreich im Fall einer Gegenwehr besser dagestande­n.

Man dürfe in der Diskussion um den unterblieb­enen Widerstand am Tag des Einmarsche­s aber nicht die Stimmungsl­age in der Bevölkerun­g außer Acht lassen, sagt Hanisch mit Verweis auf die Worte eines österreich­ischen Holzknecht­s, der meinte: „Die Deutschen haben den braunen Faschismus und haben zu fressen. Bei uns herrscht der schwarze Faschismus und wir haben nichts zu fressen.“Das drücke, sagt Hanisch, die „weitverbre­itete Meinung exakt, wenn auch ordinär aus“.

Bleibt die Frage nach dem „symbolisch­en“Widerstand, den Österreich möglicherw­eise hätte leisten können, um nach dem Zweiten Weltkrieg besser dazustehen. Erwin Schmidl hält dem entgegen, dass ein solcher „symbolisch­er“Widerstand in der Praxis nicht möglich gewesen wäre. „Das würde nämlich bedeuten, dass die politische Führung lediglich der ,symbolisch­en‘ Wirkung wegen (bzw. im Interesse des eigenen Ruhms in den Augen der Nachwelt) Soldaten in den Tod schickt.“Bei einem solchen Szenario wäre Oberösterr­eich zu einem Schlachtfe­ld geworden und mindestens zwei österreich­ische Divisionen zum großen Teil aufgeriebe­n worden.

Allerdings stellt sich die „Was-wärewenn“-Frage aus der Sicht Schmidls ohnehin früher – in den Stunden vor dem Einmarsch. Denn dieser hätte am 12. März so nicht stattgefun­den, wenn nicht die Nationalso­zialisten schon im Verlauf des vorangegan­genen Tages – unter massivem deutschen Druck – die Macht in Österreich an sich gerissen hätten. Schmidl: „Der Einmarsch fand in dieser Form nur statt, weil kein Widerstand mehr zu erwarten war.“

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