Viele Russen haben offenbar einen Hang zu politisch starken Männern
75 Jahre nach der Schlacht von Stalingrad verehrt man in Russland Stalin als überlebensgroßen Helden. Aber auch Wladimir Putin. Die moralischen und historischen Ebenen gesellschaftlichen Bewusstseins sind durcheinandergeraten.
Vor einer Moskauer Kneipe stehen ein paar Männer im Schnee. Sie haben einige Gläser geleert, ein gedrungener Enddreißiger umarmt einen Deutschen, den er gerade kennengelernt hat. „Das ist doch klasse, dass wir Russen euch Deutsche schlagen!“„Wie schlagen?“, fragt staunend der Deutsche. „Na, totschlagen!“, sagt der Russe und strahlt seinen neuen deutschen Freund an. Russische Herzlichkeit hat manchmal etwas Verstörendes.
Heute, Freitag, begeht Russland in Wolgograd das 75. Jubiläum der siegreichen Schlacht von Stalingrad. Damals kapitulierte die 6. deutsche Armee, die Schlacht mit fast einer Million Toten gilt als Anfang vom Ende der Wehrmacht, Russland feiert sie inzwischen als die Mutter aller Siege. Außerdem herrscht Präsidentschaftswahlkampf, Wladimir Putin reist persönlich an. Wenige Tage vorher aber annullierte das Kulturministerium die Kinolizenz für die britisch-französische Filmkomödie „Der Tod Stalins“. Der – vor schwarzem Humor triefende – Film überschreite die sittliche Grenze zur Geschichtsverhöhnung, erklärte Minister Wladimir Medinski. Wer zeige, wie der tote Stalin in einer Urinlache liege, der missachte auch die Opfer des Stalin-Terrors, schimpfte der Kino-Regisseur Karen Schachnasarow.
Eine neue Stalin-Debatte tobt, gipfelte vorerst im Studio von Radio Komsomolskaja Prawda: Dort schickte der Publizist Maxim Schewtschenko seinen Kollegen Michail Swanidse vor laufenden Kameras mit mehreren Hieben zu Boden, nachdem Swanidse Stalins Verdienste am Sieg über Deutschland bestritten hatte.
Stalin spaltet die Intelligenzija Russlands – und sein öffentliches Bewusstsein. Laut einer Umfrage des Lewada-Meinungsforschungszentrum betrachten nur 25 Prozent der Russen Stalins Repression als historisch gerechtfertigt. Aber laut Lewada-Zentrum halten 38 Prozent Stalin für die herausragendste Persönlichkeit der Weltgeschichte, gefolgt von Wladimir Putin mit 34 Prozent. Offenbar mögen die Russen starke Männer.
Wladimir Putin attestiert seinen Landsleuten ein „Siegergen“, Kinofilme, TV-Serien und Geschichtsbücher feiern die Überlegenheit russischer Kämpfer, von Alexander Newski bis zur sowjetischen Eishockey-Nationalmannschaft. Aber der Höhepunkt allen Heldentums ist der siegreiche Kampf gegen Nazideutschland, inzwischen betrachtet man sich als einzig wirklichen Gegner Hitlers im Zweiten Weltkrieg. Die Russen, die in fast jeder Familie Gefallene zu beklagen haben, glauben das gern. So wie sie an den Generalissimus Stalin glauben, der Hitler überlistete, Sowjetrussland zur Atommacht machte; vor dem auch die USA zitterten. Und Stalins Figur gerät zusehends zur historischen Rückverlängerung Wladimir Putins. Um den schart sich heute ja ebenfalls das Volk, um einer feindlichen Welt zu trotzen.
Auch die penetrante und schmeichelhafte Propaganda vom russischen Heldenvolk kommt an. Die Russen lachen über neue Witze: „Merkel sagt zu Putin: ,Ich finde es nicht gut, dass ihr eure Parade zum Tag des Sieges dieses Jahr in Sewastopol veranstaltet.‘ Putin antwortet: ,Gut, nächstes Jahr findet sie in Berlin statt.‘“Deftig dominanter Humor.
Dabei freuen sich die meisten Russen, wenn sie einem Ausländer begegnen, auch einem Deutschen. Oft erinnern sie sich dann an die Erzählungen ihrer Großmütter, wie die Besatzer sich im Krieg aufgeführt haben. Wobei ihre Anekdoten von geschenkter Schokolade oder glimpflich endenden Schlägereien zwischen Landsern und Dorfjugendlichen das offizielle Geschichtsbild oft auf den Kopf stellen. Die staatliche Siegerpropaganda ist lückenlos, aber sie hat sich nur als dünner Film über viel tiefere Bewusstseinsströme gelegt.
Durch das weit offene Internet holt man sich alle möglichen Ideen, Trends und Moden aus dem Westen. Wehrpflichtige tanzen vor Denkmal-Panzern Twerk. Moral- und Bewusstseinsebenen kollidieren. „Die Soziologen nennen den Zustand unserer Gesellschaft Anomie“, sagt Historiker Wladimir Ryschkow. „Es gibt keine allgemein gültigen Normen mehr, wir sind gleichzeitig für und gegen Stalin, beschwören die Stärke der russischen Familie – und haben dabei horrende Abtreibungsraten.“
Um diesem Wirrwarr zu entkommen, setzen offenbar auch Russlands Grundschullehrer wieder auf überlebensgroßes Führungspersonal. „Das ist der Erdball“, erklärt die Zweitklasslerin Darja. „Und wenn Putin sagt, er soll sich in die andere Richtung drehen, dann dreht er sich in die andere Richtung.“ AUSSEN@SN.AT