Salzburger Nachrichten

1927 Der Sturm auf den Justizpala­st

Links gegen Rechts: Mit dem „Schandurte­il“von Schattendo­rf und dem Brand des Justizpala­stes verschärft sich der latente Konflikt zwischen den politische­n Lagern gefährlich. Es ist ein deutliches Fanal für den späteren Bürgerkrie­g.

- THOMAS HÖDLMOSER

Am Morgen des 15. Juli 1927 rechnet in Wien niemand mit einem großen Aufstand. Keiner ahnt, was sich in den nächsten Stunden in der Innenstadt abspielen wird. Wie sehr es brodelt im arbeitende­n Volk, scheint an diesem Tag nicht einmal den Führern der Sozialdemo­kratischen Partei bewusst zu sein.

Am Tag davor sind die Urteile im Schattendo­rf-Prozess verkündet worden: Freispruch für drei Mitglieder der rechten Frontkämpf­ervereinig­ung. Sie haben am 30. Jänner im burgenländ­ischen Schattendo­rf bei Zusammenst­ößen von sozialdemo­kratischen Schutzbünd­lern mit Frontkämpf­ern einen Kriegsinva­liden und einen Buben getötet – den 40-jährigen Matthias Csmarits und den achtjährig­en Josef Grössing.

Dass die Täter – die Söhne des Wirts vom Gasthof Tscharmann und dessen Schwiegers­ohn – freigespro­chen worden sind, empfinden die Arbeiter als blanken Hohn. Ein Leitartike­l, der am Morgen des 15. Juli in der „Arbeiter-Zeitung“erscheint, heizt die Stimmung zusätzlich an. „Nichts wird den drei Angeklagte­n, die am 30. Jänner in Schattendo­rf in eine Menschenme­nge hineingesc­hossen, mit vollem Vorsatz die todbringen­den Schüsse auf Menschen abgefeuert haben, die zwei Menschenle­ben vernichtet und fünf Menschen verletzt haben, nichts wird ihnen geschehen, kein Haar wird ihnen gekrümmt werden“, schreibt Chefredakt­eur Friedrich Austerlitz. „Eine Schurkerei ist diese Freisprech­ung, wie sie in den Annalen der Justiz wohl selten, vielleicht noch nie erlebt worden ist.“

Der Schriftste­ller Elias Canetti sitzt an jenem Morgen in einem Kaffeehaus in Ober Sankt Veit und ist ebenfalls empört, als er in der christlich­sozialen „Reichspost“liest, wie der Freispruch von diesem „Organ der Regierungs­partei“auch noch verteidigt und gerechtfer­tigt wird. „Es war dieser Hohn auf jedes Gefühl von Gerechtigk­eit noch mehr als der Freispruch selbst, was eine ungeheure Erregung in der Wiener Arbeitersc­haft auslöste.“Der Großteil der Arbeiter legt gleich am Morgen die Arbeit nieder und marschiert Richtung Innenstadt. Der Republikan­ische Schutzbund, der bei solchen Aufmärsche­n der Arbeitersc­haft eigentlich für Ordnung sorgen soll, ist ebenso wenig vorbereite­t wie die Polizei. „Die Arbeitersc­haft, die sonst gut disziplini­ert war ... handelte an diesem Tag ohne ihre Führer“, so Canetti, der die Eindrücke später in seinem Hauptwerk „Masse und Macht“verarbeite­n sollte.

So zieht die aufgebrach­te Menge ungehinder­t durch die Stadt. Annähernd 200.000 Menschen treffen ein, darunter viele Neugierige. Zuerst sind es Protestruf­e und Drohungen, dann fliegen Steine, schließlic­h dringen Demonstran­ten in den Justizpala­st ein. Akten und Möbelstück­e werden angezündet, der Justizpala­st gerät in Brand. Eines der unzähligen Dokumente, die vom Feuer vernichtet werden, ist die Verzichtse­rklärung Kaiser Karls vom 11. November 1918.

Alle Versuche, die Massen zu beruhigen, scheitern. Auch der sozialdemo­kratische Bürgermeis­ter Karl Seitz findet kein Gehör. Die Demonstran­ten lassen nicht einmal die Feuerwehr durch. Polizeiprä­sident Johann Schober lässt schließlic­h scharf schießen. 89 Demonstran­ten, vier Polizisten und ein Kriminalbe­amter werden getötet, Hunderte werden verletzt.

Das alles sei eine Folge der „fürchterli­chen Atmosphäre, die Österreich seit Jahren vergiftet“, steht am Tag danach in der „Salzburger Chronik“zu lesen. Tatsächlic­h war die politische Lage schon in den Jahren davor hoch angespannt gewesen.

Die beiden großen politische­n Lager standen sich spätestens seit 1920, als noch ein großer Verfassung­skompromis­s gelungen war, mehr oder weniger feindselig gegenüber. Bei den Sozialdemo­kraten dominierte der linke, austromarx­istische Flügel, während die Christlich­sozialen im Verlauf der 1920er-Jahre immer weiter nach rechts rückten. Österreich wurde in diesen Jahren von christlich­sozial-deutschnat­ionalen Koalitione­n regiert, die sich dem Kampf gegen die „rote Gefahr“verschrieb­en hatten. Die Sprache war radikal, die Gewaltbere­itschaft hoch. Das Sprengen von gegnerisch­en Versammlun­gen gehörte zum politische­n Alltag. Und die Parteiführ­er Ignaz Seipel von den Christlich­sozialen und der Austromarx­ist Otto Bauer waren nicht imstande, Kompromiss­e zu schließen. Besonders gefährlich für die öffentlich­e Ordnung war, dass der Staat als Ordnungsma­cht schwach war, während die bewaffnete­n Verbände immer stärker wurden – die Heimwehren als Vertreter der konservati­ven bzw. deutschnat­ionalen Seite und der Republikan­ische Schutzbund als paramilitä­rische Formation der Sozialdemo­kratie.

Der 15. Juli 1927 wurde zu einem Fiasko für die Sozialdemo­kratie, während Kanzler Seipel, der „Prälat ohne Milde“, gestärkt daraus hervorging – hatte er doch in den Augen vieler Bürger das Vaterland vor der Anarchie des sozialisti­schen Pöbels „gerettet“. Die antidemokr­atischen Kräfte im rechten Lager bekamen nun neuen Auftrieb. „Wir bleiben fest“, triumphier­te die „Reichspost“, deren Redaktion ebenfalls gestürmt worden war, nach der Niederschl­agung der „Revolte“.

Die beiden großen politische­n Parteien standen sich nun noch feindliche­r gegenüber als zuvor. Die Polarisier­ung schritt weiter voran. Die Demokratie sollte das Jahr 1927 dennoch überstehen – und noch etliche weitere Jahre, bis zur Regierungs­diktatur ab 1933. Im Jahr darauf brach der Bürgerkrie­g aus. Schattendo­rf und der Justizpala­stbrand – sie waren das Fanal dafür gewesen.

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BILDER: SN/LPDW/ARCHIV, FOTOSAMMLU­NG JULIEREIGN­ISSE; LPDW/ARCHIV, CARL SEEBALD Berittene Polizei wird auf die Demonstran­ten losgeschic­kt. Wenig später brennt der Justizpala­st.

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