1927 Der Sturm auf den Justizpalast
Links gegen Rechts: Mit dem „Schandurteil“von Schattendorf und dem Brand des Justizpalastes verschärft sich der latente Konflikt zwischen den politischen Lagern gefährlich. Es ist ein deutliches Fanal für den späteren Bürgerkrieg.
Am Morgen des 15. Juli 1927 rechnet in Wien niemand mit einem großen Aufstand. Keiner ahnt, was sich in den nächsten Stunden in der Innenstadt abspielen wird. Wie sehr es brodelt im arbeitenden Volk, scheint an diesem Tag nicht einmal den Führern der Sozialdemokratischen Partei bewusst zu sein.
Am Tag davor sind die Urteile im Schattendorf-Prozess verkündet worden: Freispruch für drei Mitglieder der rechten Frontkämpfervereinigung. Sie haben am 30. Jänner im burgenländischen Schattendorf bei Zusammenstößen von sozialdemokratischen Schutzbündlern mit Frontkämpfern einen Kriegsinvaliden und einen Buben getötet – den 40-jährigen Matthias Csmarits und den achtjährigen Josef Grössing.
Dass die Täter – die Söhne des Wirts vom Gasthof Tscharmann und dessen Schwiegersohn – freigesprochen worden sind, empfinden die Arbeiter als blanken Hohn. Ein Leitartikel, der am Morgen des 15. Juli in der „Arbeiter-Zeitung“erscheint, heizt die Stimmung zusätzlich an. „Nichts wird den drei Angeklagten, die am 30. Jänner in Schattendorf in eine Menschenmenge hineingeschossen, mit vollem Vorsatz die todbringenden Schüsse auf Menschen abgefeuert haben, die zwei Menschenleben vernichtet und fünf Menschen verletzt haben, nichts wird ihnen geschehen, kein Haar wird ihnen gekrümmt werden“, schreibt Chefredakteur Friedrich Austerlitz. „Eine Schurkerei ist diese Freisprechung, wie sie in den Annalen der Justiz wohl selten, vielleicht noch nie erlebt worden ist.“
Der Schriftsteller Elias Canetti sitzt an jenem Morgen in einem Kaffeehaus in Ober Sankt Veit und ist ebenfalls empört, als er in der christlichsozialen „Reichspost“liest, wie der Freispruch von diesem „Organ der Regierungspartei“auch noch verteidigt und gerechtfertigt wird. „Es war dieser Hohn auf jedes Gefühl von Gerechtigkeit noch mehr als der Freispruch selbst, was eine ungeheure Erregung in der Wiener Arbeiterschaft auslöste.“Der Großteil der Arbeiter legt gleich am Morgen die Arbeit nieder und marschiert Richtung Innenstadt. Der Republikanische Schutzbund, der bei solchen Aufmärschen der Arbeiterschaft eigentlich für Ordnung sorgen soll, ist ebenso wenig vorbereitet wie die Polizei. „Die Arbeiterschaft, die sonst gut diszipliniert war ... handelte an diesem Tag ohne ihre Führer“, so Canetti, der die Eindrücke später in seinem Hauptwerk „Masse und Macht“verarbeiten sollte.
So zieht die aufgebrachte Menge ungehindert durch die Stadt. Annähernd 200.000 Menschen treffen ein, darunter viele Neugierige. Zuerst sind es Protestrufe und Drohungen, dann fliegen Steine, schließlich dringen Demonstranten in den Justizpalast ein. Akten und Möbelstücke werden angezündet, der Justizpalast gerät in Brand. Eines der unzähligen Dokumente, die vom Feuer vernichtet werden, ist die Verzichtserklärung Kaiser Karls vom 11. November 1918.
Alle Versuche, die Massen zu beruhigen, scheitern. Auch der sozialdemokratische Bürgermeister Karl Seitz findet kein Gehör. Die Demonstranten lassen nicht einmal die Feuerwehr durch. Polizeipräsident Johann Schober lässt schließlich scharf schießen. 89 Demonstranten, vier Polizisten und ein Kriminalbeamter werden getötet, Hunderte werden verletzt.
Das alles sei eine Folge der „fürchterlichen Atmosphäre, die Österreich seit Jahren vergiftet“, steht am Tag danach in der „Salzburger Chronik“zu lesen. Tatsächlich war die politische Lage schon in den Jahren davor hoch angespannt gewesen.
Die beiden großen politischen Lager standen sich spätestens seit 1920, als noch ein großer Verfassungskompromiss gelungen war, mehr oder weniger feindselig gegenüber. Bei den Sozialdemokraten dominierte der linke, austromarxistische Flügel, während die Christlichsozialen im Verlauf der 1920er-Jahre immer weiter nach rechts rückten. Österreich wurde in diesen Jahren von christlichsozial-deutschnationalen Koalitionen regiert, die sich dem Kampf gegen die „rote Gefahr“verschrieben hatten. Die Sprache war radikal, die Gewaltbereitschaft hoch. Das Sprengen von gegnerischen Versammlungen gehörte zum politischen Alltag. Und die Parteiführer Ignaz Seipel von den Christlichsozialen und der Austromarxist Otto Bauer waren nicht imstande, Kompromisse zu schließen. Besonders gefährlich für die öffentliche Ordnung war, dass der Staat als Ordnungsmacht schwach war, während die bewaffneten Verbände immer stärker wurden – die Heimwehren als Vertreter der konservativen bzw. deutschnationalen Seite und der Republikanische Schutzbund als paramilitärische Formation der Sozialdemokratie.
Der 15. Juli 1927 wurde zu einem Fiasko für die Sozialdemokratie, während Kanzler Seipel, der „Prälat ohne Milde“, gestärkt daraus hervorging – hatte er doch in den Augen vieler Bürger das Vaterland vor der Anarchie des sozialistischen Pöbels „gerettet“. Die antidemokratischen Kräfte im rechten Lager bekamen nun neuen Auftrieb. „Wir bleiben fest“, triumphierte die „Reichspost“, deren Redaktion ebenfalls gestürmt worden war, nach der Niederschlagung der „Revolte“.
Die beiden großen politischen Parteien standen sich nun noch feindlicher gegenüber als zuvor. Die Polarisierung schritt weiter voran. Die Demokratie sollte das Jahr 1927 dennoch überstehen – und noch etliche weitere Jahre, bis zur Regierungsdiktatur ab 1933. Im Jahr darauf brach der Bürgerkrieg aus. Schattendorf und der Justizpalastbrand – sie waren das Fanal dafür gewesen.