Der Rechtsstaat hat ein Rechtfertigungsproblem
Die Politik fordert harte Strafen gegen Sexual- und Gewalttäter. Die gibt es bereits. Die Richter sollten sie auch verhängen.
Wie so oft in diesem Land wird eine Diskussion emotional, aber ohne Fakten geführt. So auch beim Vorstoß der Regierung für eine Verschärfung des Strafrechts für Gewalt- und Sexualdelikte. Der Jubel vieler ist den Regierungsparteien sicher. Denn wer will sich schon auf die Seite von jemandem stellen, der Kinder vergewaltigt oder Frauen verprügelt? Doch die Richter und Anwälte sind angesichts der höheren Strafen skeptisch, selbst Opferschutzorganisationen sind vorsichtig. Das sollte dem juristischen Laien und der Politik zu denken geben.
Topjuristen und Wissenschafter weisen darauf hin, dass es erst vor Kurzem eine umfassende Strafverschärfung gegeben habe. Sie plädieren daher für eine sachliche Debatte. Nur: Die Fakten für eine solche sachliche Debatte fehlen leider. Wie lange gehen Vergewaltiger oder Gewalttäter durchschnittlich in Haft? Man weiß es nicht. Hat sich seit der letzten Strafrechtsreform in den Gerichtssälen etwas verändert? Unklar. Die Justiz führt keine Statistik.
Genau eine solche Statistik und ihre Auswertung wären wichtig, bevor man zum nächsten Schritt schreitet. Unser Zusammenleben wird durch ein ausgeklügeltes, sensibles Rechtssystem geregelt. Genauso sensibel sollten Reformen in diesem komplexen Regelwerk sein. Nur schnell an dem Rädchen „Straferhöhung“ in der Justizmaschinerie zu drehen hilft vor allem den Opfern solcher schlimmen Verbrechen nicht. Die Bürger und die Politik sollten auf die Experten hören, die Tag für Tag mit diesen Fällen zu tun haben. Sie haben fernab der oft reißerischen Schlagzeilen wirklich Ahnung von den Bedürfnissen der Opfer, von den Motiven der Täter, von den Urteilen der Richterschaft.
Doch auf der anderen Seite muss sich die Justiz die Frage gefallen lassen, warum sie als ungerecht empfunden wird. Viele verstehen nicht, warum ein schwerer sexueller Missbrauch nicht mit einer Gefängnisstrafe geahndet wird (obwohl das Gesetz eine solche ermöglicht), während es für ein Finanzdelikt eine Haftstrafe setzt.
Ein Rechtsstaat, den die Bürger nicht mehr verstehen, hat ein Problem. Ein gewaltiges. Denn er verliert seine Legitimation. Dieses Problem kann aber nicht durch eine Erhöhung des Strafmaßes gelöst werden. Wie wäre es damit, die möglichen Strafen – die im Vergleich zu anderen Ländern laut Experten sehr hoch sind – auszuschöpfen? Schuld und Sühne ins Lot zu bringen liegt aber an den unabhängigen Richtern und nicht an der Politik.