Wie gerecht ist die Justiz?
Sexual- und Gewalttaten werden laut Politik mit zu geringen Strafen bedroht. Experten und Juristen widersprechen. Das Problem liege woanders.
Nach dem Vorstoß der neuen Regierung, die Strafen für Gewaltund Sexualdelikte zu erhöhen, gehen weiter die Wogen hoch. Zahlreiche Richter sprechen sich gegen höhere Strafen aus, auch die Rechtsanwälte und Opferschutzeinrichtungen stehen der Idee skeptisch gegenüber.
Die Gerichtspsychiaterin und Gutachterin Gabriele Wörgötter arbeitet seit 15 Jahren mit Opfern von Gewalt- und Sexualdelikten. Pro Jahr untersucht sie etwa 40 Betroffene. Sie spricht sich gegen eine Erhöhung des Strafrahmens aus: „Die Opfer wollen vor allem, dass jemand für das ihnen zugefügte Leid zur Verantwortung gezogen wird. Die Strafhöhe ist ihnen meist egal.“Wichtig sei der Schuldspruch.
Im Vorjahr gab es laut Justizministerium etwa 249 Anklagen wegen Vergewaltigungen. Dem gegenüber stehen 115 Verurteilungen. Wobei sich manche Gerichtsverfahren über den Jahreswechsel ziehen können. Eines fällt auf: Beim Delikt der Vergewaltigung lag die Verurteilungsquote seit 2015 immer unter 50 Prozent.
Das bedeutet aber nicht, dass die anderen Angeklagten freigesprochen wurden. Vielmehr nimmt der Fall oft im Verfahren eine neue Wendung und der Angeklagte wird wegen eines anderen Delikts verurteilt – und das, obgleich Staatsanwälte nur anklagen sollten, wenn sie überzeugt sind, dass die Anklage auch Erfolg hat. Die Statistik ist also mit Vorsicht zu genießen, je nach Leseweise kann man zu wenige Verurteilungen herauslesen oder zu viele Anklagen wegen des falschen Delikts.
Mit konkreten Zahlen tut sich die Justiz generell schwer. Wie hoch die Urteile im Durchschnitt ausfallen, lässt sich nicht sagen. Die Statistiken dazu werden laut Justizministerium nicht standardmäßig geführt. Doch diese Zahlen würden für die Diskussion über die Strafhöhe benötigt. Darin sind sich die Experten einig. „Wir müssen die Strafverschärfungen aus dem Jahr 2016 evaluieren, erst dann hat es Sinn, über weitere Schritte nachzudenken“, sagt der Salzburger Strafrechtler Hubert Hinterhofer von der Universität Salzburg. „Eine solche Evaluierung wird kommen“, sagt eine Sprecherin von Staatssekretärin Karoline Edtstadler, die eine Reform ausarbeiten soll.
Immer wieder kommt der Vorwurf, dass Sexual- und Gewaltdelikte zu gering bestraft werden. Vor allem im Vergleich zu Finanzdelikten. Der Rechtswissenschafter Hinterhofer hält eine solche Behauptung ohne genaue Zahlen für unseriös. Fest steht, dass manche Gerichtsurteile in der Bevölkerung auf Unverständnis stoßen. Zuletzt wurde – auch von der Politik – der Fall eines 24-jährigen Kindergärtners aus dem Flachgau genannt. (Näheres lesen Sie auch im Lokalteil auf Seite 8.) Er hatte acht Kinder zum Teil schwer sexuell missbraucht. Nach einem Anfangsverdacht und erfolglosen Ermittlungen war der Kindergärtner eigentlich nicht mehr im Visier der Polizei und wurde sogar von den Eltern in Schutz genommen. Doch er konnte die Taten nicht mehr, wie er aussagte, mit seinem Gewissen vereinbaren und ging zur Polizei. Als Strafe erhielt er ein Berufsverbot, eine 18-monatige bedingte Haftstrafe (musste also nicht ins Gefängnis), eine Geldstrafe von 2160 Euro und er muss sich einer Therapie unterziehen. „Es kann der Gesellschaft nichts Besseres passieren, als dass ein Täter selbst zur Polizei geht und sagt: ,Ich war es, bestraft mich‘“, sagte der Richter.
Ein umstrittenes Urteil. „Ist das eigentlich das richtige Signal?“, fragt der Geschäftsführer des Kinderschutzzentrums Salzburg, Peter Trattner. Seine Einrichtung betreut minderjährige Opfer von Gewaltund Sexualverbrechen. Im letzten Jahr waren es 81. Auch Trattner ist gegen eine Straferhöhung: „Die Richter sollten das vorhandene Strafmaß ausschöpfen.“Die Richter seien vorsichtig. „Oft steht Aussage gegen Aussage. Die des Kindes wiegt leider manchmal vor Gericht weniger, weil sich die jungen Opfer nicht so konkret ausdrücken können.“Die Richterschaft sei deshalb zurückhaltend mit den Urteilen.
Ähnlich sieht das der Präsident der Opferschutzorganisation Weißer Ring, Udo Jesionek. Er sieht nicht die Strafhöhe als Problem, sondern dass der Strafrahmen von Richtern aus Sicht der Bürger nicht ausreichend ausgenutzt werde.
Und die Täter? Schrecken sie aufgrund höherer Strafen zurück? „Das bezweifle ich, denn Gewalt- und Sexualdelikte werden meist nicht geplant, sondern passieren aus der Situation heraus“, sagt die Psychiaterin Wörgötter. Der Leiter des Kinderschutzzentrums in Salzburg, Peter Trattner, sieht das etwas anders: „Einigen Tätern geht es um Machtmissbrauch und der passiert sehr wohl überlegt. Empfindliche Strafen bei Gericht könnten hier vielleicht abschrecken.“