20 Cent für ein Mal Abwiegen
Sie waren einst eine Sensation im städtischen Leben und fristen heute ein eher unscheinbares Dasein: Personenwaagen haben kaum noch eine Funktion, dienen der touristischen Belustigung.
WIEN, GRAZ. „Gibt’s die überhaupt noch? Sind die nicht schon längst aus dem Stadtbild verschwunden?“Kommt die Rede auf Personenwaagen im öffentlichen Raum, erhält man nicht selten Antworten wie diese. Weit gefehlt. Immer noch befinden sich etwa in Wien mehr als 100 Personenwaagen an Straßenbahnhaltestellen, Verkehrsknotenpunkten und in Parks. Das öffentliche Abwiegen in Wien sei eine touristische Belustigung, ein kleines, schrulliges Vergnügen in einer als nicht unschrullig geltenden Stadt, schreibt Fritz Ostermayer in dem eben erschienenen Buch „Wiener Waagen – Von der Poesie des Ablaufdatums“(Sonderzahl Verlag). Grundlage dafür ist die von Rosa Pock veranstaltete Übung „Vage ist die Waage“in der Wiener Schule für Dichtung.
Laut Expertenmeinung seien Personenwaagen in keiner anderen Großstadt derart präsent wie in Wien. „Prüfe Dein Gewicht“, stand einst auf den Waagen zu lesen, das war in einer Zeit, als noch nicht jeder eine Körperwaage im Badezimmer hatte. Und heute? Ja heute gelten die stelenartigen Objekte im Vergleich zu „Hi-Tech-Monstern mit smart body analyzer zwecks Messung von Herzfrequenz und Körperfett und wahrscheinlich bald auch mit Stuhlgang-App“wahrlich als anachronistisch. Warum sollte man gegen Geldeinwurf so einen „analogen Nur-Kilo-Anzeiger“benutzen? Noch dazu im öffentlichen Raum. Wo man sich doch üblicherweise im heimischen Badezimmer eher heimlich auf die Waage stellt. Natürlich ohne Kleidung und Schuhe, wie man es bei Personenwaagen im Stadtraum tut. Nach der Gewichtsanzeige beginnt das große Rechnen: Drei Kilo müsse man schon abrechnen. Oder gar fünf? In grauer Vorzeit waren die Personenwaagen jedenfalls noch eine echte Sensation. Man schrieb das Jahr 1888, als im Prater aus Anlass der großen „Jubiläums-GewerbeAusstellung“erstmals die „automatischen Waagen mit Münzeinwurf“der Fabrik C. Schember & Söhne ausprobiert werden konnten. Die öffentliche Personenwaage habe zur ersten Generation der Münzautomaten gezählt, betont Ostermayer. „Das Wiegen kostete drei Kreuzer, der Gewogene konnte sich dabei noch in einem an der Waage angebrachten Spiegel betrachten.“Der Unterhaltungswert des Wiegens in Gesellschaft triumphierte über mögliche Schamgefühle. Schon ab 1886 seien, so der Wiener Stadtforscher Peter Payer, Patente für Personenwaagen eingerichtet worden. Bald gab es in Wien mehrere Erzeuger dieser „Waagen zum Selbstwiegen durch Einwurf einer Münze“.
In den 1950er-Jahren erlebten die öffentlichen Personenwaagen eine neuerliche Blütezeit. Payer berichtet vom Modell „Schnellwaage 24000 MI“, welches auch heute noch verbreitet ist. In den 1970er-Jahren nahm die Beliebtheit der Waagen ab, die Konkurrenz der Badezimmerwaage wurde immer stärker. Das Buch „Wiener Waagen“umfasst Fotos, die Andreas Urban von Stadtwaagen gemacht hat, sowie Texte, die sich auf das urbane Mobiliar beziehen. Unter anderem von Antonio Fian, Bodo Hell, Friederike Mayröcker, Tex Rubinowitz und Gerhard Rühm. Orhan Kipcak alias Spud geht in seinem Text „Eigentumsverhältnisse“auf den Umstand ein, dass die Personenwaagen durchaus auch bei Vierbeinern beliebt sind: „Soeben wurde ein Totem in Besitz genommen/dem Gesetz folgend durch Heben eines Beins. Diese Eroberung ist flüchtig/Demnächst wird sie annulliert.“