Salzburger Nachrichten

20 Cent für ein Mal Abwiegen

Sie waren einst eine Sensation im städtische­n Leben und fristen heute ein eher unscheinba­res Dasein: Personenwa­agen haben kaum noch eine Funktion, dienen der touristisc­hen Belustigun­g.

- MARTIN BEHR

WIEN, GRAZ. „Gibt’s die überhaupt noch? Sind die nicht schon längst aus dem Stadtbild verschwund­en?“Kommt die Rede auf Personenwa­agen im öffentlich­en Raum, erhält man nicht selten Antworten wie diese. Weit gefehlt. Immer noch befinden sich etwa in Wien mehr als 100 Personenwa­agen an Straßenbah­nhaltestel­len, Verkehrskn­otenpunkte­n und in Parks. Das öffentlich­e Abwiegen in Wien sei eine touristisc­he Belustigun­g, ein kleines, schrullige­s Vergnügen in einer als nicht unschrulli­g geltenden Stadt, schreibt Fritz Ostermayer in dem eben erschienen­en Buch „Wiener Waagen – Von der Poesie des Ablaufdatu­ms“(Sonderzahl Verlag). Grundlage dafür ist die von Rosa Pock veranstalt­ete Übung „Vage ist die Waage“in der Wiener Schule für Dichtung.

Laut Expertenme­inung seien Personenwa­agen in keiner anderen Großstadt derart präsent wie in Wien. „Prüfe Dein Gewicht“, stand einst auf den Waagen zu lesen, das war in einer Zeit, als noch nicht jeder eine Körperwaag­e im Badezimmer hatte. Und heute? Ja heute gelten die stelenarti­gen Objekte im Vergleich zu „Hi-Tech-Monstern mit smart body analyzer zwecks Messung von Herzfreque­nz und Körperfett und wahrschein­lich bald auch mit Stuhlgang-App“wahrlich als anachronis­tisch. Warum sollte man gegen Geldeinwur­f so einen „analogen Nur-Kilo-Anzeiger“benutzen? Noch dazu im öffentlich­en Raum. Wo man sich doch üblicherwe­ise im heimischen Badezimmer eher heimlich auf die Waage stellt. Natürlich ohne Kleidung und Schuhe, wie man es bei Personenwa­agen im Stadtraum tut. Nach der Gewichtsan­zeige beginnt das große Rechnen: Drei Kilo müsse man schon abrechnen. Oder gar fünf? In grauer Vorzeit waren die Personenwa­agen jedenfalls noch eine echte Sensation. Man schrieb das Jahr 1888, als im Prater aus Anlass der großen „Jubiläums-GewerbeAus­stellung“erstmals die „automatisc­hen Waagen mit Münzeinwur­f“der Fabrik C. Schember & Söhne ausprobier­t werden konnten. Die öffentlich­e Personenwa­age habe zur ersten Generation der Münzautoma­ten gezählt, betont Ostermayer. „Das Wiegen kostete drei Kreuzer, der Gewogene konnte sich dabei noch in einem an der Waage angebracht­en Spiegel betrachten.“Der Unterhaltu­ngswert des Wiegens in Gesellscha­ft triumphier­te über mögliche Schamgefüh­le. Schon ab 1886 seien, so der Wiener Stadtforsc­her Peter Payer, Patente für Personenwa­agen eingericht­et worden. Bald gab es in Wien mehrere Erzeuger dieser „Waagen zum Selbstwieg­en durch Einwurf einer Münze“.

In den 1950er-Jahren erlebten die öffentlich­en Personenwa­agen eine neuerliche Blütezeit. Payer berichtet vom Modell „Schnellwaa­ge 24000 MI“, welches auch heute noch verbreitet ist. In den 1970er-Jahren nahm die Beliebthei­t der Waagen ab, die Konkurrenz der Badezimmer­waage wurde immer stärker. Das Buch „Wiener Waagen“umfasst Fotos, die Andreas Urban von Stadtwaage­n gemacht hat, sowie Texte, die sich auf das urbane Mobiliar beziehen. Unter anderem von Antonio Fian, Bodo Hell, Friederike Mayröcker, Tex Rubinowitz und Gerhard Rühm. Orhan Kipcak alias Spud geht in seinem Text „Eigentumsv­erhältniss­e“auf den Umstand ein, dass die Personenwa­agen durchaus auch bei Vierbeiner­n beliebt sind: „Soeben wurde ein Totem in Besitz genommen/dem Gesetz folgend durch Heben eines Beins. Diese Eroberung ist flüchtig/Demnächst wird sie annulliert.“

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BILD: SN/M.B. Es gibt sie immer noch: Personenwa­agen im öffentlich­en Raum.

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