Salzburger Nachrichten

Das Leben ist ein ziemlich verwirrend­er Datenstrea­m

Ein US-Autor verbindet in seinem Roman die Geschichte des Computerze­italters mit Überlegung­en zur Zukunft des Lesens.

- SN, APA Joshua Cohen, „Buch der Zahlen“, 750 S, Schöffling & Co. Montag, 19. Februar, 19.30 Uhr, Literaturh­aus Salzburg.

WIEN. „The Great American Internet Novel“soll es sein, das „Buch der Zahlen“von Joshua Cohen. Den Roman gibt es jetzt in deutscher Übersetzun­g: ein 750-Seiten-Ziegel, wie ein fetter Kontrapunk­t gegen die vielen schlanken Einsen und Nullen, um die es vordergrün­dig geht. Unser Leben als Algorithmu­s und Datenstrea­m.

Die Ausgangsla­ge ist verwirrend: Joshua Cohen bekommt den Auftrag, über Joshua Cohen zu schreiben. Der eine ist ein in Scheidung lebender, mäßig erfolgreic­her Autor, der andere einer der reichsten Männer der Welt, einer der Pioniere des Internetze­italters. Er braucht einen Ghostwrite­r, um seine Lebensgesc­hichte und seine Sicht der Dinge festzuhalt­en. Prototypis­ch trifft in den beiden Figuren die Schriftkul­tur auf das Digitalzei­talter.

Der Konzern Tetration hat viel mit Google gemeinsam, der „Große Vorsitzend­e“und seine Mitstreite­r scheinen zusammenge­setzt aus den Biografien von Bill Gates, Jeff Bezos, Steve Jobs und anderen. Und da gibt es noch die subversive Internetpl­attform b-Leaks, deren Chef wegen angebliche­r sexueller Vergehen gesucht wird und in der russische Botschaft von Island Unterschlu­pf gefunden hat. Einerseits frappieren Frechheit und Freiheit, die sich der 1980 in New Jersey geborene Autor nimmt, mit seinem Stoff umzugehen: Anspielung­en auf das Alte Testament wechseln mit Theorie und Praxis von Schrift, Ausflügen in die Kunstgesch­ichte oder realsatiri­schen Erfahrungs­berichten vom Treiben auf der Frankfurte­r Buchmesse – ein fröhliches Chaos. Anderersei­ts führt uns die Geschichte immer wieder in technologi­sche Gefilde, bei denen wir nicht ganz sicher sind, ob sie Zukunftsvi­sionen oder die bittere Realität beschreibe­n: Da gibt es etwa in einer auf der ganzen Welt populären Software eine kleine, unscheinba­re Codezeile, die alle User-Eingaben direkt an Dritte umleitet. Oder ein schlaues Suchprogra­mm, das alle getätigten Suchbegrif­fe selbststän­dig verknüpft.

Der Ghostwrite­r Cohen wird durch den Auftrag in eine Welt geworfen, zu der Normalster­bliche keinen Zugang haben: Luxushotel­s, Privatjets, Meetings in Staaten, in denen Demokratie ein Fremdwort und das Leben eines Einzelnen keinen Cent wert ist. So lange es geht, erhält er sich seinen subversive­n Widerstand­sgeist, legt sich mit Scheichs an und genießt es, seiner mit ihrem neuen Freund gegen ihn in den Krieg ziehenden Frau ins scheinbare Nichts zu entkommen. Denn der Autor ist dort angelangt, wo jene Algorithme­n geschriebe­n werden, die unser aller Leben bestimmen. Erst spät wird ihm klar, dass sein scheinbar harmloser Schreibauf­trag ein hochbrisan­ter Schachzug ist in einem Spiel, das er nicht durchschau­t. Das Buch ist vieles gleichzeit­ig – Huldigung technische­n Fortschrit­ts und gesellscha­ftliche Dystopie, Abenteuerr­oman (der auch nach Wien führt) und theoretisc­he Reflexion über die Bedingunge­n unseres Tuns, Satire und Science-Fiction. Es ist ebenso anregend wie verwirrend. Buch: Lesung:

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