Das Leben ist ein ziemlich verwirrender Datenstream
Ein US-Autor verbindet in seinem Roman die Geschichte des Computerzeitalters mit Überlegungen zur Zukunft des Lesens.
WIEN. „The Great American Internet Novel“soll es sein, das „Buch der Zahlen“von Joshua Cohen. Den Roman gibt es jetzt in deutscher Übersetzung: ein 750-Seiten-Ziegel, wie ein fetter Kontrapunkt gegen die vielen schlanken Einsen und Nullen, um die es vordergründig geht. Unser Leben als Algorithmus und Datenstream.
Die Ausgangslage ist verwirrend: Joshua Cohen bekommt den Auftrag, über Joshua Cohen zu schreiben. Der eine ist ein in Scheidung lebender, mäßig erfolgreicher Autor, der andere einer der reichsten Männer der Welt, einer der Pioniere des Internetzeitalters. Er braucht einen Ghostwriter, um seine Lebensgeschichte und seine Sicht der Dinge festzuhalten. Prototypisch trifft in den beiden Figuren die Schriftkultur auf das Digitalzeitalter.
Der Konzern Tetration hat viel mit Google gemeinsam, der „Große Vorsitzende“und seine Mitstreiter scheinen zusammengesetzt aus den Biografien von Bill Gates, Jeff Bezos, Steve Jobs und anderen. Und da gibt es noch die subversive Internetplattform b-Leaks, deren Chef wegen angeblicher sexueller Vergehen gesucht wird und in der russische Botschaft von Island Unterschlupf gefunden hat. Einerseits frappieren Frechheit und Freiheit, die sich der 1980 in New Jersey geborene Autor nimmt, mit seinem Stoff umzugehen: Anspielungen auf das Alte Testament wechseln mit Theorie und Praxis von Schrift, Ausflügen in die Kunstgeschichte oder realsatirischen Erfahrungsberichten vom Treiben auf der Frankfurter Buchmesse – ein fröhliches Chaos. Andererseits führt uns die Geschichte immer wieder in technologische Gefilde, bei denen wir nicht ganz sicher sind, ob sie Zukunftsvisionen oder die bittere Realität beschreiben: Da gibt es etwa in einer auf der ganzen Welt populären Software eine kleine, unscheinbare Codezeile, die alle User-Eingaben direkt an Dritte umleitet. Oder ein schlaues Suchprogramm, das alle getätigten Suchbegriffe selbstständig verknüpft.
Der Ghostwriter Cohen wird durch den Auftrag in eine Welt geworfen, zu der Normalsterbliche keinen Zugang haben: Luxushotels, Privatjets, Meetings in Staaten, in denen Demokratie ein Fremdwort und das Leben eines Einzelnen keinen Cent wert ist. So lange es geht, erhält er sich seinen subversiven Widerstandsgeist, legt sich mit Scheichs an und genießt es, seiner mit ihrem neuen Freund gegen ihn in den Krieg ziehenden Frau ins scheinbare Nichts zu entkommen. Denn der Autor ist dort angelangt, wo jene Algorithmen geschrieben werden, die unser aller Leben bestimmen. Erst spät wird ihm klar, dass sein scheinbar harmloser Schreibauftrag ein hochbrisanter Schachzug ist in einem Spiel, das er nicht durchschaut. Das Buch ist vieles gleichzeitig – Huldigung technischen Fortschritts und gesellschaftliche Dystopie, Abenteuerroman (der auch nach Wien führt) und theoretische Reflexion über die Bedingungen unseres Tuns, Satire und Science-Fiction. Es ist ebenso anregend wie verwirrend. Buch: Lesung: