Der Osten und der Süden Europas bleiben abgehängt
Viele Länder schaffen den Anschluss an die westlichen und nördlichen Staaten der Union nicht. Bei der Wettbewerbsfähigkeit wird der Unterschied größer.
Die Hoffnung, dass sich die EU-Mitgliedsländer wirtschaftlich und beim Lebensstandard nach und nach einem gemeinsamen Niveau annähern, war trügerisch. Das zeigt eine neue Studie des Österreichischen Wirtschaftsforschungsinstituts (Wifo), die im Auftrag der EUKommission erstellt wurde.
Was Wohlstand, Wirtschaftsleistung und Lebensstandard angeht, haben gerade die einst armen Länder Osteuropas zwar gewaltig aufgeholt. Doch ein genauer Blick bringt ein unerwartetes, deutlich differenzierteres Ergebnis zutage. WifoÖkonom Klaus Friesenbichler erklärt: „Es hat ein Wachstum in Osteuropa gegeben, es war aber nicht so stark, wie man erwartet hatte, und vor allem war es nicht stark genug, um gegenüber den Ländern Kerneuropas aufzuholen.“Die Gründe dafür sind hartnäckige Unterschiede in der Wettbewerbsfähigkeit. Die Entwicklung der Produktivität, also der Wertschöpfung pro geleisteter Arbeitsstunde, zeigt, dass die Länder mit einem ohnehin höheren Produktivitätsniveau und auch höhe- rem Wirtschaftswachstum höhere Wachstumsraten bei der Produktivität aufgewiesen haben als jene Länder mit geringer Produktivität und niedrigerem Wachstum. Österreich zählt mit einem Produktionswachstum von im Schnitt 0,32 Prozent pro Jahr (inflationsbereinigt, von 2000 bis 2015) zu den Ländern mit den größten Zuwächsen.
„Das Wachstum war nicht stark genug.“Klaus Friesenbichler, Wifo
WIEN. Auf den ersten Blick scheint die Sache klar: Was Wohlstand, Wirtschaftsleistung und Lebensstandard angeht, haben gerade die einst armen Länder Osteuropas gewaltig aufgeholt. Ein zweiter Blick jedoch zeige ein unerwartetes, deutlich differenzierteres Ergebnis, sagt Ökonom Klaus Friesenbichler vom Wirtschaftsforschungsinstitut (Wifo). „Es hat ein Wachstum in Osteuropa gegeben, es war aber nicht so stark, wie man erwartet hatte, und vor allem war es nicht stark genug, um gegenüber den Ländern Kerneuropas aufzuholen.“Die Vision der Europäischen Union, dass „nach dem Ende des Kommunismus ein Aufholprozess Osteuropas startet und sich der Lebensstandard in der EU angleicht, hat sich nicht bewahrheitet“, sagt er. Die Gründe dafür seien hartnäckige Unterschiede in der Wettbewerbsfähigkeit.
Gemeinsam mit seinem Kollegen Christian Glocker hat sich Friesenbichler im Auftrag der EU-Kommission nicht nur die Entwicklung des Bruttoinlandsprodukts (BIP), sondern auch die Entwicklung der Produktivität (definiert als Wertschöpfung pro geleisteter Arbeitsstunde) der einzelnen Länder seit dem Jahr 2000 angeschaut. Gezeigt habe sich dabei, dass die Länder mit einem ohnehin höheren Produktivitätsniveau und auch höherem BIP pro Kopf höhere Wachstumsraten bei der Produktivität aufgewiesen haben als jene Länder mit geringer Produktivität und niedrigerem BIP. So habe etwa in Kerneuropa – wozu das Wifo hier neben Österreich, Belgien, Deutschland, Dänemark, Finnland, Frankreich, Großbritannien, Luxemburg, Niederlande und Schweden zählt – die Produktivität zwischen 2000 und 2015 um im Schnitt 0,32 Prozent pro Jahr (inflationsbereinigt) die größten Zuwächse verzeichnet. Im Vergleich dazu konnten die Länder Osteuropas nur um 0,28 Prozent zulegen, Südeuropa erreichte nur ein Plus von im Schnitt 0,17 Prozent im Jahr.
Auch beim Wachstum seien die Unterschiede zwischen Kerneuropa und Südeuropa über die Jahre zwar stabil geblieben, erklären die Studienautoren. Osteuropa sei seit der Krise 2008/09 sogar zurückgefallen. „Natürlich gibt es in den einzelnen Ländern sehr unterschiedliche Entwicklungen“, schränkt Friesenbichler ein, so hätten sich vor allem die Slowakei und Tschechien sehr positiv entwickelt, Griechenland sei wie erwartet deutlich zurückgefallen, auch Italien musste Rückschläge verzeichnen.
Generell sei zu beobachten, dass vor allem die Wirtschaftsstruktur einen starken Einfluss auf die Entwicklung der Produktivität gehabt habe, erklärt Wifo-Experte Glocker. Jene Länder, die vor der Krise vor allem bei nicht handelbaren Gütern wie etwa dem Baugewerbe oder der Immobilienbranche massive Zuwächse verzeichneten, bei handelbaren Gütern wie etwa der Sachgütererzeugung, aber auch wissensintensiven Dienstleistungen nicht wettbewerbsfähig waren, wurden von der Krise weit stärker getroffen. Rückgänge im eigenen Markt konnten sie nicht durch Exporte ausgleichen. Auch die Verschuldung war durch die fehlende Konkurrenzfähigkeit eigener Produkte und damit die Notwendigkeit, zu importieren, deutlich höher. „Diese Erkenntnis ist im Grunde nicht neu, das hat man bereits vor 30 Jahren bei den Ländern Lateinamerikas erkannt“, sagt Glocker. In Europa sei diese ungünstige Branchenstruktur mit einem übermäßigen Wachstum bei nicht handelbaren Gütern als Risikohinweis lange ignoriert worden.
Dass die ost- und südeuropäischen Länder nicht stärker aufholen konnten, liege aber freilich auch an dem starken Produktivitätswachstum Kerneuropas, betont Friesenbichler. Was Osteuropa betreffe, habe es zwar in den 2000erJahren viele Produktionsverlagerungen von Westeuropa dorthin gegeben. Der große Schwung sei aber längst vorbei. „Wenn man für die Firmenabwanderung nicht mehr so attraktiv ist, muss man sich fragen, wie es weitergeht.“Dann müsse ein preisgetriebenes Wirtschaftsmodell durch ein qualitäts- und technologiegetriebenes Wirtschaftsmodell ersetzt werden, sagt Friesenbichler. Hier hätten viele Länder den Anschluss bei der Wettbewerbsfähigkeit noch nicht ge- schafft. Auch die Abwanderung von Fachkräften in den besser zahlenden Westen dürfte hier mitspielen.
Ein etwas verzerrtes Bild liefere freilich der Vergleich an sich. „Man vergleicht hier Osteuropa mit Kerneuropa. Was wäre aber ohne einen EU-Beitritt gewesen? Dann müsste man diese Länder mit Ländern wie Weißrussland oder Moldawien vergleichen.“Dass der EU-Beitritt den Ländern genützt habe, ob durch Wissenstransfer, Direktinvestitionen oder auch EU-Förderungen, ist für Friesenbichler unbestritten.