Die Freundschaft von Lila und Lenù endet
Die Neapel-Tetralogie der Italienerin Elena Ferrante über eine lange komplizierte Frauenfreundschaft endet brutal und traurig.
Freunde von Elena Ferrantes Neapel-Sage dürften sich in den nächsten Tagen kaum vom Sofa wegbewegen: Der vierte und letzte Teil der Romanserie über die Freundschaft von Elena (Lenù) und Raffaela (Lina oder Lila) ist auf Deutsch erschienen. Auch im letzten Teil „Die Geschichte des verlorenen Kindes“erzählt Ferrante nichts, womit man rechnet. Umso kälter erwischt es einen: Der letzte Band ist der düsterste, der spannendste und der traurigste.
In Italien wissen die Leser seit Herbst 2014, wie die Geschichte der mehr als 60 Jahre umfassenden Freundschaft endet, im englischsprachigen Raum immerhin seit 2015. Für die deutschen Leser wird die Frage, was aus Lila geworden ist, jetzt ein letztes Mal aufgeworfen. Denn mit diesem Rätsel hat die Saga einst begonnen. Sie habe an jedem der vier Bände jeweils gut ein halbes Jahr gearbeitet, erläutert die Übersetzerin Karin Krieger. Zunächst habe sie vier bis sieben Seiten pro Tag übersetzt und diese Version mehrmals überarbeitet. Neben genauer Lektüre sei sie auch nach Neapel gereist, um in die dortige Atmosphäre einzutauchen und sich auf den Dialekt einzustimmen. Sie habe alte italienische Filme angesehen und sich einen Stadtplan der süditalienischen Hafenstadt über den Schreibtisch gehängt.
Elena Ferrante erzählt aus der Sicht von Lenù. Diese lebt in Turin, als sie einen Anruf von Lilas Sohn Rino bekommt: Er wisse nicht, wo seine Mutter stecke. Auch Lenù weiß nichts, aber sie erinnert sich an die lange Freundschaft zu Lila und all die widersprüchlichen Gefühle, die sie in der Zeit zu ihr hatte.
Diesen Erinnerungen widmet Ferrante mehr als 2000 Seiten – erst Elenas und Lilas Kindheit im heruntergekommenen Stadtteil Neapels, dann Lilas frühe Ehe und Elenas schulischer Erfolg, weiters die harte Fabrikarbeit Lilas in Neapel und Elenas Intellektuellenleben in Pisa, die Schwangerschaften sowie das ständige Auseinanderdriften und Zusammenfinden der Freundinnen – all das hat die ersten drei Bände bestimmt. Der brutale Alltag im Neapel der 50er-Jahre und seine tradierten Rollenbilder begleiteten die Geschichte dabei so wie die 60erund 70er-Jahre in Italien mit ihren Auseinandersetzungen zwischen Faschisten und Kommunisten.
Kritiker haben Ferrante für dieses Gesellschaftspanorama genauso gelobt wie für ihre raffinierte Schilderung einer komplizierten Frauenfreundschaft, bei der man nicht weiß, wen man mögen soll: Die schüchterne Elena sagt nie so recht, was sie denkt, hegt Selbstzweifel und fühlt sich von der Anerkennung anderer abhängig. Bei der verschlagenen Lila hingegen ist stets unklar, was sie im Schilde führt. Der letzte Band beginnt mit Lenùs lang ersehntem Traum: endlich mit Nino Sarratore zusammen zu sein – der einst auch Lilas Geliebter gewesen ist. Am Ende des dritten Bandes hat sie ihren Mann Pietro und die Töchter Dede und Elsa sitzen lassen, um mit Nino durchzubrennen. „Wie aufregend es war, sich nicht nur geliebt, sondern auch geachtet zu fühlen“, schwärmt Lenù.
Auf den 600 Seiten des vierten Bandes nimmt nicht nur die Beziehung zu Nino eine unerwartete Wendung, auch das Auf und Ab zwischen Lina und Elena sorgt für Überraschungen. „Sie wollte, dass wir uns versöhnten, wollte sich wieder in meinem Leben einnisten“, sagt Elena zunächst über Lina. Dann finden die Freundinnen zur gegenseitigen Zuneigung zurück. Elena wird vorgeworfen: „Du hörst zu sehr auf Lina (…). Sie vergiftet dir den Kopf, deine Gefühle, alles.“
Je weiter sich Lilas und Lenùs Kindheit von der Gegenwart entfernt, desto extremer, ambivalenter und widersprüchlicher wird ihre Beziehung. Elena sagt schließlich über Lila: „Sie schien einen eigenen, geheimen Sinn in sich zu tragen, der allem anderen seinen Sinn nahm.“
Auch wenn die Saga mit dem letzten Teil nun endet – mit Lila und Lenù geht es weiter. Dieses Jahr soll eine Fernsehserie von Rai und dem US-Sender HBO an den Start gehen. Auch um Elena Ferrante dürfte es nicht ruhiger werden. Sie hat begonnen, eine wöchentliche Kolumne für die britische Tageszeitung „The Guardian“zu schreiben. Im Juni soll außerdem die Übersetzung eines erstmals 2003 veröffentlichten Buchs der Autorin auf Deutsch erscheinen. Davon abgesehen dürften sich die Leser weiter fragen, wer die Schriftstellerin ist: Elena Ferrante ist ein Pseudonym. Ihre wahre Identität will die italienische Autorin nicht preisgeben.
Schüchterne Lenù und verschlagene Lila
Buch: Elena Ferrante, „Die Geschichte des verlorenen Kindes“, 614 Seiten, Suhrkamp, Berlin 2018.