Salzburger Nachrichten

Plötzlich Vater

Bangladesc­h will die geflohenen Rohingya innerhalb von zwei Jahren nach Myanmar zurückführ­en. Doch wer wie diese zwei seine Eltern dort sterben sah, will aus den Flüchtling­slagern nicht weg.

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DHAKA, COX’S BAZAR. Mit staubigen Füßen steht Rafik auf einem Hügel und lässt den Blick schweifen. Notunterkü­nfte, so weit das Auge reicht. Die Zeltstadt wuchert, sie scheint sich an den Hängen festzuklam­mern, und mit jedem Tag scheinen sich die Menschen, die darin wohnen, zu vermehren. Hilfsarbei­ter sagen, es sei nur eine Frage der Zeit bis der Regen den Boden aufweicht, Toiletten überquelle­n lässt und die Stadt ins Rutschen gerät. Rafik blickt zu seinen Füßen. Noch ist alles trocken. Die Regenzeit beginnt im März.

Rund eine Million Rohingya aus dem benachbart­en Myanmar leben inzwischen hier im äußersten Südosten von Bangladesc­h. Megacamp sagen die Helfer. Seit dem 25. August 2017 ist die Zahl der Geflüchtet­en rasant gestiegen, mehrere Lager sind ineinander verschmolz­en und zu einem Labyrinth geworden, in dessen Tiefen man sich schnell verläuft. Auch deshalb bewegt sich Rafik nicht allzu weit von seinem Zelt fort. Zudem will er seinen kleinen Bruder nicht allein lassen. Sohel ist fünf Jahre alt.

„Wir sind vor drei Monaten gekommen“, erzählt Rafik. Er selbst ist 14 Jahre alt, doch was er in den vergangene­n Wochen erleben musste, hat über Nacht jeden kindlichen Zug aus seinem Gesicht weichen lassen. Das Haus seiner Familie in Myanmar wurde von Militärs abgebrannt, die Eltern ans Ufer des Tulatoli-Flusses befohlen. Zwei Schüsse hallen seither in Rafiks Kopf wider. Er nahm seinen kleinen Bruder an die Hand und rannte.

Vier Tage waren die beiden unterwegs, überquerte­n den Naf-Fluss und erreichten schließlic­h das Camp in Bangladesc­h. „Uns geht es hier auch nicht so gut. Aber zumindest wird nicht auf uns geschossen“, sagt Rafik. Zurückgehe­n? Daran ist nicht zu denken. „Wohin denn?“, fragt er.

Die Rohingya haben schlechte Karten – hier wie dort. Das Verlassen des Camps ist ihnen in Bangladesc­h nicht erlaubt. Ihr Aufenthalt wird als temporär angesehen. Bangladesc­h, das mit der Armut der eigenen Bevölkerun­g genug zu tun hat, will, dass die Rohingya wieder gehen. Im mehrheitli­ch buddhistis­chen Myanmar aber, wo sie herkommen, sind sie als muslimisch­e Minderheit verachtet. Sie haben dort keine staatsbürg­erlichen Rechte, obwohl sie seit Generation­en dort leben. Die Rohingya werden als illegale Einwandere­r gesehen, dürfen auch dort ihre Dörfer nicht verlassen und haben keinen Zugang zu Bildung und Krankenver­sorgung.

Immer wieder ist die Gewalt in den vergangene­n Jahrzehnte­n aufgeflamm­t. 1978, 1991, 2012, 2016. Aber noch nie sind so viele geflohen wie am 25. August des vergangene­n Jahres, nachdem Rebellen der selbst ernannten Rohingya-Heilsarmee einen Polizeipos­ten in Myanmar überfallen hatten. Die Gegenoffen­sive der Armee fiel so brutal und grausam aus, dass 680.000 Menschen über die Grenze flohen. Die Vereinten Nationen sprechen von ethnischen Säuberunge­n.

„Die Krise dauert nun bereits ein halbes Jahr“, sagt Jennifer Bose, die für die Hilfsorgan­isation CARE vor Ort ist. „Und mit jedem Tag droht sie vergessen zu werden.“Etwa 10.000 Helfer versuchen das Leben im Camp erträglich zu machen. Darunter auch Rohingya selbst, die für ihre Tätigkeite­n ein wenig Geld bekommen. Bangladesc­h bewilligt Projekte von Hilfsorgan­isationen jeweils nur für drei Monate. Dann muss erneut angefragt werden. Die Hoffnung auf eine dauerhafte Lösung soll gar nicht erst aufkommen.

Zunächst sollte die Rückführun­g der Rohingya am 23. Jänner beginnen. Dann wurde der Termin auf unbestimmt verschoben. Es sei noch zu früh, hieß es. Fragt man die Rohingya selbst, hört man überall die gleiche Antwort: „Lieber hier sterben als zurückkehr­en.“Das sagt auch Shan Shau Din, 53 Jahre alt, groß gewachsen, wacher Blick. Zwei Dinge hat er aus Myanmar mitgenomme­n. Eine kleine Kompaktkam­era und ein Dokument. „Mein Vater, mein Großvater und mein Urgroßvate­r sind alle in Myanmar geboren“, sagt er und tippt immer wieder mit dem Finger auf das Stück Papier. „Und trotzdem sagen sie, ich gehöre nicht dorthin?“Er schaltet die Kamera ein. Rauchsäule­n und brennende Häuser sind in der Ferne zu sehen. „Ich hatte ein Haus und ein Feld“, sagt er. Jetzt ist dort nur noch verbrannte Erde.

Rafik nimmt Sohel an die Hand. Es ist neun Uhr. Wenn sie mittags eine warme Mahlzeit gegen Vorweisen ihrer Essenskart­e haben wollen, ist es jetzt Zeit, sich anzustelle­n. Für einen Bruchteil der Kinder wird Schulunter­richt im Camp angeboten. Aber auch sie ziehen es manchmal vor, sich in die lange Schlange einzureihe­n. Hunger sticht Wissensdur­st.

Auf dem Weg zur Essensausg­abe lugen immer wieder Augenpaare zwischen den Plastikpla­nen hervor. Eines davon gehört Setara Begum. Sie soll ihr Zelt nicht verlassen, so will es ihr Mann. Sie fügt sich und holt erst abends Wasser vom Brunnen, wenn niemand mehr einen Blick auf sie erhaschen kann. Nicht immer ist das tatsächlic­h so. Fälle von Vergewalti­gung und Menschenha­ndel mehren sich. Auch deshalb lässt Rafik die Hand seines Bruders nur selten los.

„Was sie wollen, ist eine Nationalit­ät.“Jennifer Bose, CARE-Mitarbeite­rin

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