Strafrichter urteilen unterschiedlich
Ein Straftäter geht in Wien eher ins Gefängnis als in Tirol. Seit Jahrzehnten gibt es ein massives Ost-West-Gefälle in den österreichischen Gerichtssälen. Wie ist das möglich?
Ein Straftäter geht in Wien eher ins Gefängnis als in Tirol. In den Gerichtssälen gibt es ein Ost-West-Gefälle.
WIEN. Vor dem Gesetz sind alle gleich. Das stimmt so nicht. Denn in der Praxis hat ein verurteilter Tiroler eine höhere Chance, mit einer milderen Strafe davonzukommen, als ein Wiener.
Dass es in Österreich zum Teil ein massives Ost-West-Gefälle bei den Richtersprüchen gibt, ist in Juristenkreisen bekannt. Erste Untersuchungen, die massive Unterschiede bei Richtersprüchen zwischen Ostund Westösterreich zeigen, gab es bereits in den 1980er-Jahren.
Auch ein Gutachten (erschienen im Manz Verlag) des Salzburger Rechtswissenschafters Kurt Schmoller und des Wiener Kriminologen Christian Grafl aus 2015 zeigt das klar. „Besonders auffällig sind diese regionalen Unterschiede bei nicht vorbestraften männlichen Erwachsenen“, kommen die Autoren zum Schluss. Im Einzugsgebiet des Oberlandesgerichts (OLGSprengel) Innsbruck wurde bei 17 Prozent der Schuldsprüche eine Freiheitsstrafe (unbedingt, teilbedingt, bedingt) verhängt, im OLGSprengel Linz waren es rund 50 Prozent und in Wien rund 60 Prozent. Genau umgekehrt war es bei den Verurteilungen zu einer Geldstrafe. Im Westen gab es deutlich mehr als im Osten. Die Gerichte im Westen glaubten also eher an die präventive Wirkung von Geldstrafen, die Gerichte im Osten eher an die Freiheitsstrafe. Übrigens: Bei den verhängten Strafen gegen Sexualstraftäter (die zuletzt in Diskussion waren) ist eine solche statistische Auswertung laut den Experten nicht seriös möglich, weil die Zahl der Taten für so eine Erfassung zu gering ist.
Wegen des Ost-WestGefälles bei Straftaten gegen Leib und Leben und auch den Vermögensdelikten war die Justiz alarmiert und reagierte mit Gesetzesänderungen.
Die Maßnahmen sollten dieses Gefälle ausgleichen. Doch ein Blick in den aktuellsten Sicherheitsbericht, jenem aus dem Jahr 2016, zeigt, dass noch immer ein starkes Ost-West-Gefälle herrscht: Freiheitsstrafen (unbedingt, teilbedingt, bedingt) wurden in den OLGSprengeln Linz und Graz mehr als doppelt, im OLG-Sprengel Wien sogar mehr als dreimal so häufig ausgesprochen wie in Innsbruck. Im Gegenzug gab es in Tirol wesentlich häufiger Geldstrafen.
Der Kriminologe Christian Grafl warnt aber vor der pauschalen Aussage, dass der Westen milder sei als der Osten. Denn „im OLG-Sprengel Innsbruck werden teilweise in höherem Ausmaß unbedingte Freiheitsstrafen verhängt als im OLGSprengel Wien“. Österreich stehe mit dem Gefälle bei den Urteilen nicht allein da. Auch in Deutschland gebe es ein solches Ungleichgewicht zwischen Norden und Süden. Aber warum gibt es solch große Unterschiede in Rechtssprechung und Strafzumessung? Unter Rechtsexperten und Juristen gibt es verschiedene Theorien dazu. Entscheidend dürfte ein recht simpler Grund sein: die Tradition.
„Auch Richter lehnen sich in der Strafzumessung an die Praxis ihrer Kollegen an und setzen sie damit oft in gleicher Weise fort“, sagt Grafl. Das Strafrecht gibt in Österreich einen weiten Rahmen vor. So können Richter auf den Einzelfall eingehen – was von der Richterschaft weitgehend begrüßt wird. Die Folge davon kann allerdings sein, dass in der Gerichtspraxis die Urteile unterschiedlich ausfallen.
Das Ost-West-Gefälle gibt es auch bei der Verhängung der U-Haft. Das zeigt eine Untersuchung des Kriminalsoziologen Walter Hammerschick. Laut Daten aus dem Jahr 2013 ging ein Verdächtiger in Wien mit drei Mal höherer Wahrscheinlichkeit in U-Haft als in Innsbruck.
Die Unterschiede in der Strafzumessung werden demnächst auch von der Kommission rund um die Staatssekretärin im Innenministerium, Karoline Edtstadler (ÖVP), unter die Lupe genommen. Edtstadler überlegt strengere Strafen für Sexual- und Gewaltverbrecher – und das in ganz Österreich.