Wie viel Coaching braucht das Land?
Systemverwicklungen tragen zur Pathologie unserer Gesellschaft bei. Was Coaching zur Lösung leisten kann und was nicht.
Wenn wir das aktuelle Angebot an Coaching überblicken, könnte ein beobachtender Marsmensch zur Überzeugung kommen: Es gibt in diesem Land nur zwei Arten von Lebewesen. Solche, die Coaching brauchen und nur eingeschränkt in der Lage sind, ihre anstehenden Probleme eigenständig und kompetent zu lösen. Und sehr viele Sachverständige, die sich kraft ihrer Persönlichkeit oder durch eine Coachingausbildung berufen fühlen, problemlösend für andere tätig zu sein. Wahrscheinlich müsste der Marsmensch den Eindruck gewinnen, in eine bedürftige, wenn nicht kranke Gesellschaft geraten zu sein.
In der Tat scheint es mittlerweile normal, nicht gesund zu sein, sondern eher krank, ausgebrannt und behandlungsbedürftig. Die täglichen Nachrichten in den Medien verstärken den Eindruck, dass Krieg, Terrorismus, Atomgefahr, Korruption, Mord und Missbrauch zum Alltag unseres Lebens geworden sind. Unser Denken und Fühlen ist gleichsam einer krankmachenden Dauerbedrohung ausgesetzt.
Wie konnte es zu so einer Situation kommen? Haben wir alle – Politik, Wirtschaft, Familien –, hat unser Bildungssystem versagt, dessen Ziel es doch sein müsste, gesunde und optimistische Menschen zu entwickeln? Könnte Coaching die Versäumnisse eines überlasteten Bildungssystems kompensieren?
Zuerst müssten wir Coaches uns selbst an die Nase fassen. Von welchen Werten her, von welcher Zieltheorie her definieren wir Rolle und Aufgabe von Coaching? Wäre es nicht arrogant, Lehrerinnen und Lehrern, die im Rahmen ihrer Möglichkeiten einen guten Job versuchen, Coaching anzubieten? Würden wir da nicht das falsche humane System behandeln?
Dringend notwendig wäre es – wenn wir es mit dem systemischen Ansatz ehrlich meinen – herauszufinden, welche Systemverwicklungen zur Pathologie unserer Gesellschaft mit beitragen, zum Beispiel das Verhältnis von Bildungsund Kultusministerien zu Universitäten und Schulen. Einzelcoaching hat unter diesen Gesichtspunkten nur geringe Wirksamkeit. Größere Chancen für ein Changemanagement hätte professionelle Systemberatung der Institutionen, die das Bildungssystem bestimmen. Ein Bildungssystem, in dem viele die Matura- reife oftmals nur mit Nachhilfeunterricht erreichen, ist nicht optimal. Selbst wenn im Zuge der Digitalisierung jedes Kind mit einem Smartphone versorgt wäre, würde das an dem in den PISA-Studien beklagten Defizit an kognitiven und sozial-emotionalen Fähigkeiten wenig ändern. Lehrerinnen und Lehrer sind überfordert, wenn sie mit Kindern und Jugendlichen konfrontiert sind, die die Sprache nicht verstehen und ihre pubertären Konflikte mit dem Faustrecht lösen. Wir wissen um diese Situation, schauen aber lieber weg und berufen uns auf die Ohnmacht dem Staat gegenüber.
Ich selbst habe das staatliche Bildungssystem verlassen, um selbstständig mit Systemen zu arbeiten, die für gesundes Changemanagement bereit sind. Hier sehe ich als Coach die Chance, nachhaltig einen Beitrag zu leisten. Hans Rosenkranz ist Wirtschaftspädagoge, Organisationspsychologe und systemischer Familientherapeut. Seine Erfahrung gibt er in Studiengängen für Coaching, Managementtraining und Leadership weiter. Buchtipp: „Wie wir aus Stroh Gold machen können“(139 S., E-Book, 20,99 €).