75-Jährige arbeitete zwei Jahre an Fastentuch für Dom-Altar
Else Seidl stickte das Telgter Hungertuch aus dem Jahr 1623 nach. Ebenso lang testete sie das richtige Material. Ausdauer beweist die heute 75-Jährige schon ihr halbes Leben.
SALZBURG. Arche Noah, Adam und Eva und Kreuzweg Jesu: Auf viereinhalb mal zweieinhalb Metern Fläche prangen zentrale Szenen aus der Bibel. Das riesige Tuch, das seit Montag über einen Seitenaltar im Salzburger Dom gespannt ist, zieht die Blicke der Besucher auf sich. Else Seidl blickt zufrieden auf ihr Werk.
„Ich habe das Tuch in einem Zug gestickt. Zwei Jahre lang sind täglich mehrere Stunden Zeit hineingeflossen. Ich war richtiggehend besessen davon“, sagt die 75-Jährige. Für Stickereien habe sich die gebürtige Oberösterreicherin schon interessiert, als sie die Fachschule für Damenmode besucht hat. Ihr besonderes Interesse galt sakraler Stickkunst. „Für mich ist das Spannende da- ran, wie die Bibel früher dargestellt wurde. Das war ziemlich ungeschönt.“
Stichgetreu hat Seidl das deutsche Original nachgestickt – nur etwas kleiner dimensioniert. Das drei mal sieben Meter große Telgter Hungertuch ist 1623 entstanden und zählt zu den bedeutendsten religiösen Kulturgütern Westfalens. 33 Motive bilden dieses Produkt blaublütiger Handarbeitskunst. Vier Reihen zeigen die Passion Christi, zwei weitere widmen sich den Symbolen der Evangelisten sowie Szenen aus dem Alten Testament. „Früher sind sechs, sieben adelige Damen an diesem Werk gesessen. Nur Angehörige dieses Standes hatten Zugang zu feinen Stoffen“, erzählt Seidl.
Der Stoff ist das Wichtigste am Fastentuch. Eigentlich soll man den Altar darunter noch schemenhaft erkennen können, dessen Glanz während der Fastenzeit verhüllt wird. In vielen Salzburger Pfarren werden aber eher blickdichte violette Tücher verwendet. „Die alten Fastentücher mit durchscheinenden Stoffen sind fast nicht mehr zu bekommen“, sagt Else Seidl.
Zwei Jahre hat auch sie Material getestet, bis sie schließlich das richtige Leinen gefunden hat. Ihr Fastentuch besteht aus fast durchsichtigem Käseleinen. „Daraus wird auch Topfen gepresst“, bestätigt die Künstlerin. Auch der ursprüngliche Begriff Fasten-Velum bezieht sich auf das lateinische Wort für Schleier.
Seidls originalgetreues Fastentuch war im Vorjahr auf Schloss Trautenfels in der Steiermark ausgestellt. Nun kommt es erstmals seinem ursprünglichen Zweck zugute. „Es freut mich sehr, dass das Tuch in meiner Heimatstadt zu sehen ist“, sagt sie. Bis zum Karsamstag verhüllt das Tuch den sogenannten Schneeherren-Altar. So wurden jene 13 Konsistorialräte bezeichnet, denen die Kapelle mit dem Altar der heiligen Jungfrau Maria vom Schnee gewidmet ist.
Fastentücher sind im Dom eigentlich nur in den zwei Wochen von Passionssonntag bis Karsamstag zu sehen. In dieser Zeit werden die Prunkkreuze verhüllt. Domkustos Johann Reißmeier
„Was früher sechs, sieben adelige Damen gestickt haben, machte ich allein.“