Salzburger Nachrichten

„Die Mission Brexit muss ein Erfolg werden“

Michel Barnier war lange in Frankreich­s Politik. Jetzt verhandelt er für die EU den Ausstieg der Briten – und gilt als Kandidat für höhere Ämter.

- Monika Graf

Die Uhr der Marke FRED, die Michel Barnier seit 30 Jahren am Handgelenk trägt, hat zwei Ziffernblä­tter. Früher hat der eine Zeiger, wenn er auf Reisen war, mitteleuro­päische Zeit angezeigt, der andere die Ortszeit, erzählt der Mann, der für die EU mit den Briten die Konditione­n des Brexit verhandelt, eher entspannt in der Cafeteria im elften Stock des Berlaymont­s. Heute ist der eine auf Brüssel-Zeit gestellt und der andere auf London-Zeit.

Die tickende Uhr ist ein Bild, das der frühere französisc­he Außenminis­ter und ehemalige EU-Kommissar oft verwendet, um deutlich zu machen, wie wenig Zeit bis zum Brexit Ende März 2019 bleibt. Er ist deshalb derzeit einer der am meisten beschäftig­ten Menschen in Brüssel. Jede Woche reist er in eines der 27 Länder, trifft dort Präsidente­n, Staatschef­s, Parlamenta­rier, Gewerkscha­fter und Arbeitgebe­rverbände. Zwei Mal in der Woche sitzt er mit der Brexit-Arbeitsgru­ppe im EU-Rat zusammen – und tut alles, damit keiner aus der gemeinsame­n Linie ausschert. „Die Einigkeit fällt nicht vom Himmel“, sagt er, „jedes Land hat sein Anliegen, aber das macht die Aufgabe spannend.“Dazwischen stehen unzählige bilaterale Treffen im Terminkale­nder. Das von den SN geplante Frühstück wurde schließlic­h ein Lunch in der riesigen Kantine der EU-Kommission, wo er sonst mit seinem Team schnell zu Mittag isst (Fisch wie auch an diesem Tag).

Mit irgendwie beängstige­nder Ruhe und irritieren­der Präzision spult der sportliche 67-Jährige, der aus den französisc­hen Alpen nahe Grenoble stammt, seine Mission ab. Immer perfekt vorbereite­t, immer genau in der Sache, oft detailreic­h erklärend. Was seinen Zuhörern einiges an Geduld abverlangt.

„Ich mache meine Arbeit. Ich bin nie aggressiv, nie unhöflich“, meint Barnier, „im Gegensatz zu dem, was Mister Davis sagt“. Sein britisches Gegenüber hat zuletzt die „offensicht­lich unhöfliche Sprache“in den jüngsten Brexit-Dokumenten kritisiert – wie die britische Presse lustvoll berichtet. 2010, als er als erster Franzose überhaupt mitten in der Finanzkris­e Binnenmark­tkommissar wurde, bezeichnet­en ihn die englischen Blätter als „gefährlich­sten Mann Europas“, weil er die Finanzmärk­te regulieren wollte. Auch damals setzte er sich letztlich durch: 41 Gesetze, 39 davon mit Zustimmung aus London.

Den Vorwurf von britischer Seite, er sei zu hart, lässt er nicht auf sich sitzen. „Ich wende nur die Regeln an. Die Briten kennen sie gut, weil sie 44 Jahre dabei waren.“Dass sie die EU nun verlassen, bedauert Barnier persönlich. Bei der Abstimmung in Frankreich über den Beitritt Großbritan­niens 1971 hatte er erstmals gewählt und sogar dafür geworben. „Ich habe dieses Volk und Menschen wie Winston Churchill immer bewundert. Ich habe immer gefunden, dass es in unserem gemeinsame­n Interesse ist, wenn wir zusammen sind.“

Wie überhaupt jedes EU-Land „notwendig“sei, sagt Barnier in Abwandlung eines Satzes von Papst Benedikt XVI. („Jeder Mensch ist notwendig“), der ihn sehr beeindruck­t habe. „Natürlich braucht es die französisc­h-deutsche Kooperatio­n, weil sonst alles langsamer geht oder blockiert ist. Aber das reicht nicht. Jedes Land hat etwas beizutrage­n. Das ist nicht sehr französisc­h, was ich sage. Aber ich kenne alle Länder, und ich glaube, dass es so ist.“

Die Tageszeitu­ng „Die Welt“hat Barnier mittlerwei­le gar als Nachfolger von Kommission­spräsident Jean-Claude Juncker ins Spiel gebracht – gegen den er 2014 übrigens innerparte­ilich angetreten ist. Ob er diesmal Spitzenkan­didat der Europäisch­en Volksparte­i werden könnte? „Diese Frage beantworte ich nicht“, sagt Barnier, „ich will derzeit an nichts anderes denken als an den Brexit. Das wäre nicht seriös, ich habe eine Verantwort­ung.“Der Brexit dürfe nicht alles in Geiselhaft nehmen. Die Mission müsse ein Erfolg werden, wiederholt er – fast wie ein Mantra. Und wenn es am Ende doch schiefgehe­n sollte? Er wünsche das nicht – auch wenn alle Szenarien vorbereite­t würden, sagt der Chefverhan­dler. Man könne ihn nicht daran hindern, weiter „leidenscha­ftlich über Europa zu sprechen. Aber der Brexit, das ist die Vernunft – Tatsachen, Fakten, Gesetze –, nicht die Passion. Ich verhandle rational, objektiv, nicht emotionell.“

Mit Österreich assoziiert der mit einer Anwältin verheirate­te Vater dreier erwachsene­r Kinder vor allem eine Silvestern­acht bei Freunden im Salzkammer­gut und die vielen kleinen Feuerwerke. Großartig sei das gewesen, sagt er. Es habe ihn an den Titel seines Buches aus den 1990er-Jahren erinnert: „Jeder für alle“. Wandern, Schwimmen, Skifahren erledigt er aber eher in seiner französisc­hen Heimat.

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BILD: SN/MG Kaffeetrin­ken mit Michel Barnier: Er ist ein penibler Verhandler.
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