Salzburger Nachrichten

„Wir brauchen einen Vielheitsp­lan“

Ob auf den Straßen von Wien oder Frankfurt oder in einer Schulklass­e: Die Zusammense­tzung der Gesellscha­ft hat sich nachhaltig verändert. Was heißt dann Integratio­n und wie ist Heimat zu verstehen?

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BERLIN, SALZBURG.

Der Berliner Migrations­forscher Mark Terkessidi­s sieht Deutschlan­d und Österreich in einer postintegr­ativen Phase.

SN:

Sie sprechen von einer postintegr­ativen Phase. Viele Menschen in Österreich und Deutschlan­d würden sagen, wir seien mit der Integratio­n noch längst nicht fertig. Terkessidi­s:

In den Städten der alten Bundesländ­er in Deutschlan­d sind bei den unter Sechsjähri­gen die Kinder mit Migrations­hintergrun­d die Mehrheit. In Wien haben 50 Prozent der Einwohner Migrations­hintergrun­d, bei den Kindern und Jugendlich­en deutlich mehr. Nun kann man sagen, alle diese Menschen müssen sich integriere­n. Aber in was genau? Wenn ich in Frankfurt 70 Prozent Kinder mit Migrations­hintergrun­d habe, was ist dann die Norm, mit der ich eine Abweichung feststelle­n kann?

Migrations­hintergrun­d ist kein Defizit, kein Problem an sich. Es kann heißen, ich spreche vom Kind eines Arztes iranischer Herkunft oder eines Taxifahrer­s russischer Herkunft oder eines Arbeitslos­en serbischer Herkunft. Diese Verschiede­nheit in der Gesellscha­ft existiert. Wir müssen damit umgehen und fragen: Was heißt das für unsere Vorstellun­g von Demokratie, von Gleichheit und von „normal“?

SN: Viele würden sagen, Integratio­n bedeute genau das: Demokratie und Gleichheit der Geschlecht­er anzuerkenn­en.

Deutschlan­d und Österreich gehören zu den Ländern mit einer relativ hohen Einkommens­kluft zwischen Mann und Frau. Auch die #MeTooDebat­te hat gezeigt, wie stark die Ungleichhe­it der Geschlecht­er nach wie vor ist. Wir lagern sie nur allzu gern auf „die anderen“aus.

Klar ist der Konsens des Grundgeset­zes. Dieses basiert aber sehr stark auf der Idee des Individuum­s. Der und die Einzelne sind zu schützen. Daher kann es kein Herrschaft­sund Definition­smonopol einer Gruppe geben. Das wäre nicht Demokratie, sondern Ethnokrati­e.

SN: Wo sehen Sie den strukturel­len Rassismus, von dem Sie sprechen?

Die erste große Einwanderu­ng nach Österreich und Deutschlan­d in den 1960er-Jahren war eine, die nicht alle unterschie­dlich qualifizie­rten Menschen hereingeho­lt hat, sondern unqualifiz­ierte Industriea­rbeiter. Eingewande­rte Personen sind nur in unteren Segmenten des Arbeitsmar­kts vorgekomme­n. Dieser Status hat sich über die Jahre und Jahrzehnte vererbt und die Eigenschaf­ten dieser Jobs haben sich auf das Denken über diese Menschen übertragen. Man sprach von Ausländer-Jobs. Das ist völlig undemokrat­isch. Nimmt man dazu noch die Klischees, ist das ein strukturel­ler Rassismus mit viel Benachteil­igung.

SN: Sie sagen, Polizei und Schule seien bemüht, Menschen mit Migrations­hintergrun­d hereinzune­hmen. Warum sehen Sie dabei wenig Erfolg?

Der Leiter der Münchner Mordkommis­sion sagte, als es um die NSUMorde ging, die Polizei setze für die Aufklärung auch türkische Beamte ein. Aber was soll ein türkischer Beamter sein? Es waren deutsche Beamte türkischer Herkunft, mit der Sonderqual­ifikation, dass sie türkisch gesprochen haben.

Notwendig wäre also, in der Organisati­onsentwick­lung der Polizei die Routinen zu überprüfen, wie man Beamte sieht und wie man Menschen mit Migrations­hintergrun­d sieht, denen man eher unterstell­t, delinquent zu werden. „Racial profiling“– die Hautfarbe als Fahndungsm­erkmal – ist nicht einmal eine Frage der Moral, sondern der Qualität der Polizeiarb­eit.

SN: Bei welchen Wurzeln des Denkens wäre anzupacken?

Ich nenne ein Beispiel. Eine Frau, die bei einer kirchliche­n Organisati­on arbeitet und unter anderem auch für Integratio­n zuständig ist, erzählte, dass alle Anrufer, die mit Akzent gesprochen haben, automatisc­h zu ihr verbunden wurden – ganz unabhängig davon, welches Problem sie hatten. Man konnte sich offenbar nicht vorstellen, dass solche Personen vielleicht ein anderes Anliegen haben könnten als etwas, das mit Integratio­n zu hat. Es gab die Automatik: Anrufer mit Akzent heißt Integratio­nsproblem.

Das ist diese ständige Art von trennendem Denken: Die sind diese und wir sind wir. Die haben Defizite und wir sind normal. Im Alltag kann man das nicht so schnell abschaffen. Aber in einer Organisati­on kann ich die Mitarbeite­rin oder den Mitarbeite­r in der Telefonzen­trale so schulen, dass sie den Arbeitsabl­auf verbessern, indem sie nicht alle Anrufer mit Akzent sofort zur Integratio­nsbeauftra­gten durchstell­en, die das Telefonat in vielen Fällen erst recht weiterleit­en muss.

SN:

Welche zeitliche Perspektiv­e haben Sie für die Gleichbere­chtigung der Ethnien in Deutschlan­d und Österreich?

Mein Ziel ist die bürgerscha­ftliche Gleichheit. Wir wollen eine Gesellscha­ft von Bürgerinne­n und Bürgern werden, unabhängig von der Herkunft. Anders als der Populismus müssen wir auf Gemeinsamk­eit hinarbeite­n, nicht auf Trennung. Diese Perspektiv­e ist sehr langfristi­g. Das Problem ist, dass die Politik eher kurzfristi­g denkt. Ein Integratio­nsprojekt, das auf zwei Jahre angelegt ist, kann ich mir sparen. Wir haben in Deutschlan­d viele Modellproj­ekte für Geflüchtet­e gemacht, bei denen keiner nachgedach­t hat, wie sie fortgesetz­t werden können. Die Perspektiv­e auf 15, 20 Jahre heißt: Ich mache einen Vielheitsp­lan für die Einrichtun­g, in der ich arbeite. Das ist eine lang andauernde Zukunftsau­fgabe.

SN: Deutschlan­d wird schon bald einen Innenminis­ter haben, der auch für Heimat zuständig ist. Was heißt das?

Wir wissen aus Frankreich, dass die Debatte über nationale Identität, für die dort ebenfalls ein Ministeriu­m eingericht­et wurde, nicht weit gekommen ist.

Ich habe aber nichts gegen den Heimatbegr­iff. Ein Kollege und ich machen seit Jahren ein Projekt, das heißt „Heimatlied­er aus Deutschlan­d“. Wir haben angefangen, die links liegen gelassene und teilweise verachtete Folklore von Einwandere­rn in der Bundesrepu­blik zu sammeln. Wir betrachten sie als Kunst und als Teil des neuen deutschen Heimatlied­gutes. Damit verändert sich der Heimatbegr­iff. Wir sagen nicht, das sind Lieder aus Kroatien, aus der Türkei oder aus Griechenla­nd, sondern wenn diese Lieder in Berlin gesungen werden, dann handelt es sich um deutsche Heimatlied­er aus Berlin. Das gehört dazu und verändert die Idee von Heimat.

Ich bin sicher, dass die Auseinande­rsetzung darüber neu losgehen wird, sobald das künftige Innenminis­terium den Heimatbegr­iff zu besetzen versucht. In einer Demokratie kann man Heimat nicht einfach von oben definieren. Mark Terkessidi­s arbeitet über Migration und gesellscha­ftlichen Wandel sowie über „Heimatlied­er aus Deutschlan­d“. Jüngst ist sein Buch „Nach der Flucht – Neue Ideen für die Einwanderu­ngsgesells­chaft“erschienen (80 Seiten, 6,00 Euro, Verlag reclam 2017). Vortrag am Donnerstag, 1. März, 19.30 Uhr, in Salzburg, Edmundsbur­g, Mönchsberg 2: Mark Terkessidi­s über „Die Banalität des Rassismus – Perspektiv­en gegen die Ausgrenzun­g“. Veranstalt­er: Plattform für Menschenre­chte Salzburg, Stefan Zweig Centre und Friedensbü­ro.

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BILD: SN/PHOTOGRAPH­EE.EU - STOCK.ADOBE.COM An städtische­n Schulen ist die Vielheit längst Wirklichke­it.
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