Panzer fahren unter dem Zuckerhut auf
Brasiliens Regierung schickt Militärs nach Rio, um die öffentliche Sicherheit zu garantieren.
Es sind verstörende Bilder, die derzeit aus Rio de Janeiro um die Welt gehen. An der berühmten Copacabana mischen sich Soldaten in Kampfmontur unter Touristen in Badesachen. Die an den Hügeln der Stadt klebenden Favelas sind nahezu besetzte Gebiete. Panzerwagen stehen an strategischen Ecken der Armenviertel, Infanteristen kontrollieren an Checkpoints die Einwohner, fotografieren sie, um gesuchte Straftäter zu finden.
Seit gut einer Woche haben die Militärs unter dem Zuckerhut Stellung bezogen. Und sie sind gekommen, um zu bleiben. Angesichts der Unfähigkeit, Korruption und Unterausstattung der Polizei Rios sollen die Streitkräfte bis mindestens zum Jahresende die Sicherheit in der zweitgrößten Stadt Brasiliens garantieren. So hat es der rechte Präsident Michel Temer Mitte des Monats, und so hat es der Kongress abgesegnet.
Experten vermuten dahinter politische Motivationen. Schließlich ist Wahljahr in Brasilien. Jedenfalls weckt die Militarisierung Erinnerungen an die Diktatur, die in Brasilien vor 30 Jahren zu Ende gegangen ist. Und sie ist in gewisser Weise ein Offenbarungseid eineinhalb Jahre nach Ende der Olympischen Sommerspiele. Das Welttreffen der Sportelite sollte die Stadt sicherer und lebenswerter machen, stattdessen steht Rio vor einem Abgrund.
Die „Cidade maravilhosa“, die „wunderbare Stadt“, wird zur „Cidade horrorosa“, zum Ort des Horrors. 2017 wurden in Rio 6700 Morde verzeichnet, das entspricht 18 am Tag. Es ist die höchste Zahl seit fast zehn Jahren und um 26 Prozent mehr als noch 2015. Drei von vier Einwohnern Rios würden, wenn sie denn könnten, aus der Stadt wegziehen, ermittelte jüngst eine Umfrage. Denn die Kriminalität, schon immer Teil der (Un-)Kultur der Stadt, hat dermaßen überhandgenommen, dass sie inzwischen nicht nur die Armutsviertel trifft. Sie ist in der ganzen Stadt angekommen. Die Polizei ist überfordert und steht bisweilen selbst aufseiten der Gesetzlosen. Das Benzin für die Streifenwagen ist ebenso knapp wie die Munition für die Waffen und die Formulare zur Aufnahme der Anzeigen. Der Bundesstaat Rio de Janeiro ist aufgrund fehlender Einnahmen Klaus Ehringfeld berichtet für die SN aus Lateinamerika aus dem Erdölgeschäft und Misswirtschaft schlicht pleite.
Zudem ist die vor zehn Jahren begonnene Befriedung der Favelas gescheitert. Die Drogenbanden sind stärker zurück denn je. Das Konzept der auf Kooperation statt Konfrontation setzenden Bürgerpolizei UPP blieb letztlich ohne Erfolg, weil es nicht begleitet wurde von Programmen, die den Favela-Bewohnern auskömmliche Alternativen aufzeigen konnten. Es fehlt an Arbeitsplätzen, Bildungschancen, Gesundheitsversorgung. Zudem drängt Brasiliens größte Bande des organisierten Verbrechens in die Stadt. Das „Primeiro Comando da Capital“aus São Paulo will das in Rio dominierende „Comando Vermelho“verdrängen und sich des lukrativen Drogenhandels bemächtigen.
Gewaltforscher Ignacio Cano hält die Militarisierung für einen „demokratischen Rückschritt“. Man folge dem gefährlichen Mythos, „dass uns nur die Militärs retten können“. Die Kurzinterventionen der Streitkräfte hätten keine grundlegende Verbesserung der Lage bewirkt: „Das Problem der öffentlichen Sicherheit ist strukturell.“Die Kartelle, die sich vor allem über den wachsenden Drogenhandel finanzieren, regieren ganze Regionen und haben den Staat als Ordnungsmacht verdrängt. Mindestens die Hälfte der Bewohner Rios findet den Militäreinsatz daher richtig. Die Mittel- und Oberschicht der Metropole findet schon lange, dass nur hartes Durchgreifen hilft.