„Egon Schiele ist nie gemütlich“
Gemälde könnten Energie geben, sagt ein Kunsthistoriker. Und Egon Schiele vermittle die Kraft zu Selbstbestimmung.
Egon Schiele hat längst das Renommee des Jahrhundertkünstlers erreicht. Sein Werk ist in vielen Büchern und Ausstellungen ausgebreitet worden. Trotzdem ist 2018 zum Egon-Schiele-Jahr erklärt. SN: Was ist an diesem rundum gerühmten Künstler noch an Neuem zu entdecken? Christian Bauer: Viele seiner Bilder wirken so, als kämen sie frisch aus dem Atelier eines zeitgenössischen Künstlers. Sein Werk ist unglaublich gegenwärtig. Heutzutage wird immer wieder die Selbstbestimmung eingemahnt: Erfolgreich und zufrieden werde nur, wer seinen eigenen Weg finde. Was ist dieser Weg? Was ist dieses Selbst? Schieles Bilder sind voller Energie dafür.
Und es gibt noch immer ungehobene Schätze. Dort und da tauchen Archivalien oder Briefe auf. Soeben sitze ich über einem Brief von Oktober 1910, den wir 2019 veröffentlichen werden. Darin offenbart er unglaublich viel – wie seine anthropomorphe Sicht auf Natur und Pflanzen. Er schreibt, er könne mit allen lebenden Wesen reden, auch mit Pflanzen und Tieren; jeder Baum habe Gesicht, Augen und Arme. SN: Die Albertina hat Ihre Bestände schon 2017 gezeigt, das Leopold Museum und Belvedere tun es heuer. Warum ist Niederösterreich bisher noch nicht vorgekommen? Wir haben ja Tulln! Am 6. April eröffnen wir dort das neu gestaltete Schiele-Museum. So lautstark wie die Wiener Museen kann so ein kleines Haus nicht sein, aber es wird eine sinnvolle Ergänzung des Konzerts im Schiele-Jahr. SN: Was zeigen Sie in Tulln? Dort ist man inmitten der Landschaften, die Schiele gemalt hat. Mein Wunsch wäre, dass die Besucher, die wegen des Museums kommen, auch diese Landschaften erleben! Um Tulln im Radius von 25 bis 40 Kilometer – bis Klosterneuburg, Neulengbach, Krems – sind diese Schauplätze des Schiele-Kosmos.
Im Museum werden wir den Menschen Egon Schiele vorstellen. Dafür haben wir umfassendes Material der Schiele-Forscherin Alessandra Comini. SN: Welches Material ist das? Sandra Comini ist im August 1963, damals war sie in den Zwanzigern, aus Texas aufgebrochen, nachdem sie in Berkeley eine kleine SchieleAusstellung gesehen hatte. Sie wollte ihr Leben diesem Künstler widmen. Sie ist nach Wien geflogen, hat sich einen VW ausgeborgt und ist nach Tulln gefahren. Sie war die erste Forscherin am Bahnhof, hat bei der Wohnung (wo Schiele die Kindheit verbracht hat, Anm.) angeläutet und dort fotografiert. Sie hat in Neulengbach die Gefängniszelle besucht und jene legendären Fotos gemacht, auf denen der Waschtrog genau so steht wie in Schieles Aquarell. Sie hat seine Schwestern Gerti und Melanie kennengelernt und mit ihnen Interviews geführt.
Sie ist die zentrale Figur bei der Neuausrichtung des Museums in Tulln. Die Tonbandaufzeichnungen ihrer Interviews – mit Gerti und Melanie, mit Ediths Schwester Adele Harms – sowie viele ihrer Beiträge für die Schiele-Forschung dürfen wir dort präsentieren. SN: Was haben die Schwestern erzählt? Wie Schiele gestorben ist, wie das mit Edith Harms war (die er 1915 geheiratet hat), wie es in der Wohnung in der Wattmanngasse ausgesehen hat, wie er Klimt kennengelernt hat, wie die Beziehung zum Vater war, wie die gemeinsame Kindheit war. All das ist so ausführlich noch nie zu erleben gewesen. SN: Sie erwähnen einen unbekannten Brief. Warum werden Sie den erst 2019 publizieren? Auszüge davon werden wir schon jetzt in Tulln zugänglich machen, aber der Brief wird erst als Dauerleihgabe für die Landesgalerie Niederösterreich in Krems ausgestellt. SN: Wann wird dieser Neubau in Krems eröffnet? Im ersten Halbjahr 2019, und das wird freilich mit Egon Schiele zu tun haben. Er ist der zentrale Weltkünstler des Landes Niederösterreich. Und das neue Museum, die Landesgalerie Niederösterreich, liegt zwischen lauter Stellen, die er gemalt hat – wie die FrauenbergKirche. Überhaupt war die Wachau für ihn eine Sehnsuchtslandschaft, die er immer wieder bereist hat. Andrerseits ist hier in Krems das Haus, in dem er als angehender Gymnasiast gewohnt hat. Das neue Museum wird 2019 keine SchieleAusstellung machen, aber wir werden dort schon die Frage stellen, was dieses Werk heute aktuell macht – mit Exponaten aus Landesund Privatsammlungen. SN: Was wird aus der Sammlung von Werner Gradisch, die dieser wegen eines Streits mit der Gemeinde Tulln 2015 aus dem Museum abgezogen hat? Die ist eine wesentliche Sammlung, denn es ist die einzige in Familienbesitz (sie gehört einem Großneffen von Egon Schieles Schwester Melanie, Anm.). Es sind rund siebzig Werke, vieles auf Papier, das meiste Frühwerke. In Teilen werden wir sie bei der Eröffnung der Landesgalerie Niederösterreich zeigen. SN: Welche Gemälde besitzt das Land Niederösterreich? Wir haben einige zentrale Werke, etwa die „Zerfallende Mühle“. Die hat Schiele selbst als seine schönste Landschaft bezeichnet. Dann haben wir frühe Sonnenblumen.
Quantitativ kann unsere Sammlung freilich nicht mit dem Leopold Museum mithalten, aber in der Qualität der Einzelwerke durchaus. SN: Wird sich Niederösterreich als Schiele-Land positionieren? Mit Tulln, Neulengbach und Krems als Schiele-Orten? Das tut Niederösterreich schon lange – mit vielen Initiativen und mit Ankaufspolitik. Wir setzen mit dem Relaunch des Tullner Museums einen weiteren Schritt. Das war ja, als es 1990 eröffnet wurde, das erste Schiele gewidmete Museum überhaupt. Erst elf Jahre später wurde das Leopold Museum in Wien eröffnet, erst danach das Schiele-Zentrum in Krumau. Die rege Ausstellungstätigkeit gibt es auch erst in den letzten zwanzig Jahren. SN: Begonnen hat dies mit „Egon Schiele und seine Zeit“aus der Sammlung Leopold. Ja, das war Ende der 1980er-Jahre, im Kunstforum (der Länderbank, heute Bank Austria); die ist dann herumgetourt. Rudolf Leopold hatte schon in den 50ern Schiele-Ausstellungen initiiert. Aber seine unendlich wichtige Sammlung ist erst seit 2001 im Leopold Museum dauerhaft zugänglich. Vorher war sie nicht im kollektiven Bewusstsein. SN: Ist Egon Schiele ein Beispiel, wie ein Künstler zum Magneten für Tourismus umfunktioniert wird – samt Kitschgefahr? Was Peter Rosegger heuer für die Steiermark, „Stille Nacht“für Salzburg, wird Schiele 2018 für Niederösterreich? Da mach ich mir keine Sorgen! Davor schützt sich Schiele selbst, denn es ist unmöglich, seine Kunst banal zu begreifen.
Wer sie betrachtet, egal ob Landschaft oder Selbstporträt, muss sich auf etwas einlassen. Wenn das für Tourismus taugt, dann nur für reflektierten Tourismus. Denn bei Schiele hat man sofort eine Auseinandersetzung mit sich selbst. Und er ist nie gemütlich. Er katapultiert einen immer in eine andere Erkenntnisdimension.
Die Gefahr für achtlose touristische Vermarktung ist also weniger groß als bei Peter Rosegger oder bei Werken, die leicht eingänglich sind.
„In der Wachau sind seine Sehnsuchtslandschaften.“Christian Bauer, Nö. Landesgalerie „Schieles Kunst sträubt sich gegen das Banalisieren.“Christian Bauer, Nö. Landesgalerie
SN: Worin liegt der Unterschied? Schiele hat etwas Gnadenloses. Niemand würde schmachtend vor einem seiner Bilder stehen und mit romantischen Worten dessen Schönheit preisen. Wer diese Bilder betrachtet, wird zurückgeworfen in eine Wahrheit, die immer auch eine Gegenseite auftut.