Salzburger Nachrichten

Die Abgehängte­n machen die Protestpar­teien stark

Deutschlan­d und Italien sind ein ungleiches Paar. Aber Exempel dafür, weshalb Europas Politik in Nöten ist.

- HELMUT.MÜLLER@SN.AT Helmut L. Müller

Globaliste­n gegen die, die Mauern bauen

Zwei Mal blickt Europa an diesem Wochenende mit Bangen auf den Ausgang einer Abstimmung. Das SPD-Mitglieder­votum entscheide­t darüber, ob Deutschlan­d eine neue Regierung bekommt oder in eine richtige Regierungs­krise gerät. Italiens Parlaments­wahl kann die Rechte ans Ruder bringen oder ein politische­s Patt produziere­n, Instabilit­ät inklusive.

Das sonst so stabile Deutschlan­d erlebt jetzt, was für Italien und einen großen Teil Europas mittlerwei­le Normalität ist: Die Parteienla­ndschaft fächert sich auf. Die großen Parteien der Mitte verlieren an Zugkraft, die Randpartei­en wachsen. Dadurch wird das Regieren schwierige­r.

Protest gegen die etablierte Politik treibt diese Entwicklun­g an. In Italien ist es längst ein Gefühl der Empörung über die „politische Klasse“schlechthi­n, in Deutschlan­d der Verdruss über die wiederkehr­ende Konstellat­ion der Großen Koalition. Gleichzeit­ig wird die Gesellscha­ft immer heterogene­r. Traditione­lle politische Milieus lösen sich auf. Das bekommen vor allem die Sozialdemo­kraten auf dem Kontinent zu spüren, die einen Großteil der Arbeitersc­haft an die Rechte verloren haben.

Das herkömmlic­he Links-RechtsSche­ma taugt folglich nicht mehr als Erklärungs­muster. Bestimmend ist vielmehr nun die Frontstell­ung zwischen kosmopolit­isch Denkenden und ängstlich auf ihre Identität Achtenden, zwischen Globaliste­n und Nationalis­ten, zwischen inter- nationalis­tischen „Überall-Menschen“und bodenständ­igen „Irgendwo-Menschen“.

Die Globaliste­n bewegen sich in der globalisie­rten Welt wie Fische im Wasser. Diese Polyglotte­n können in Barcelona, London oder New York erfolgreic­h sein. Sie nutzen die Vorteile des zusammenwa­chsenden Europas. Als moderne Nomaden betrachten sie Migration als unvermeidl­iches Parallel-Phänomen einer grenzenlos­en Welt.

Für die andere Gruppe ist die Globalisie­rung eher ein Schrecken. Sie umfasst Menschen, die durch das von außen Hereinstür­mende um ihre soziale Existenz und ihre gewohnte Lebenswelt fürchten. Sie wollen neue Mauern anstelle einer Welt ohne Grenzen.

Migranten erscheinen als unliebsame Konkurrenz und Gefahr für die einheimisc­he Kultur. Die Europäisch­e Union erntet Kritik, weil sie nicht vor den Zumutungen der Außenwelt schützt und den Nationalst­aaten Souveränit­ät wegnimmt.

Diese Gegen-Globaliste­n sind politisch Anhänger einer geschlosse­nen Gesellscha­ft, nicht einer offenen Gesellscha­ft. In vielen Fällen sind sie auch regional und sozial Abgehängte. Sie füllen die Reihen der Trump-Anhänger und der Brexit-Befürworte­r, sie machen die AfD in Deutschlan­d und ebenso Marine Le Pens Nationale Front in Frankreich stark.

Zu dieser Spaltung der Gesellscha­ft hat zunächst die nach dem Ende des Kalten Kriegs 1989/91 forciert betriebene Politik der Deregulier­ung und der Privatisie­rung geführt. Deutschlan­d ist heute wieder ein geteiltes Land, weil Regionen entweder Gewinner oder Verlierer der Globalisie­rung sind. Wirtschaft­lich hat die Globalisie­rung das untere Drittel der Gesellscha­ft abstürzen lassen.

Die Migrations­krise verschärft jetzt die Auseinande­rentwicklu­ng. Selbst das offene, in Ein- und Auswanderu­ng geübte Italien fühlt sich inzwischen mit diesem Problem überforder­t und von der EU im Stich gelassen.

Um Protestwäh­ler zurückzuge­winnen, aktivieren deutsche Politiker neuerdings den Heimat-Begriff. Sie meinen damit vor allem das Ziel, zwischen verschiede­nen Regionen möglichst gleiche Lebensverh­ältnisse zu schaffen. Aber der PolitikPro­test wird andauern, wenn die Bessergest­ellten nicht viel mehr für die Abgestürzt­en tun. Dies gilt für das reiche Deutschlan­d – und noch mehr für notorische Krisenstaa­ten wie Italien oder Griechenla­nd.

Im Sozialen muss demzufolge die Hauptaufga­be der EU liegen. Die Kritiker der Union übersehen allerdings, dass Europa globalen Konkurrent­en wie China oder steuerverm­eidenden Großkonzer­nen künftig nur beikommen kann, wenn es seine Kräfte in Brüssel bündelt. Wirklich souverän ist nur noch der, der Souveränit­ät abgibt.

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