Salzburger Nachrichten

Das Leiden an Einsamkeit wird unterschät­zt

Der Jurist Ferdinand von Schirach erzählt von zeitlos Verwundete­n, die auf Einsamkeit oder Schrecken absurd reagieren.

- Ferdinand von Schirach, „Strafe“, Kurzgeschi­chten, 192 Seiten, Luchterhan­d Verlag, München 2018.

„Die meisten Menschen kennen den gewaltsame­n Tod nicht, sie wissen nicht, wie er aussieht, wie er riecht und welche Leere er hinterläss­t“, merkt Ferdinand von Schirach am Ende seiner soeben erschienen­en Sammlung zwölf kleiner Erzählunge­n an. Der Jurist und Strafverte­idiger, der im Vorjahr die Festrede zur Eröffnung der Salzburger Festspiele gehalten hat, münzt neuerlich sein berufliche­s Wissen in Lesestoff um. Nach „Verbrechen“aus 2009 und „Schuld“aus 2010 ist „Strafe“der dritte derartige Band.

Freilich geht es um Straftaten der grauslichs­ten Art, die Schirach schonungsl­os beschreibt. Doch er schildert nicht den Fall, sondern er erzählt von den Menschen, die Mörder geworden sind, die mit Mördern oder Ermordeten derart in Berührung gekommen sind, dass sie selbst des Mordes bezichtigt wurden, oder die andere derart schwer verletzt haben, dass es zum Mord nicht weit gewesen wäre. Ferdinand von Schirach erzählt zwölf Schicksale in kurzen, schnörkell­osen Sätzen. In solch nüchterner Umgebung wird sogar das Grauen sachlich – oder besser: Der ultimative Punkt des Grauens kommt ohne Popanz, ohne Krimi-Firlefanz zur Geltung, sondern ist herausgesc­hält wie ein Schauspiel auf leerer Bühne.

Im kargen sprachlich­en Setting dieser kurzen Geschichte­n führt Schirach unsere Ahnung auf noch etwas hin, was er am Ende des Buchs einräumt: „Ich dachte an die Menschen, die ich verteidigt hatte, an ihre Einsamkeit, ihre Fremdheit und ihr Erschrecke­n über sich selbst.“Und was für Einsamkeit­en er da entblößt! Da ist der exzellente Programmie­rer, der sich eine Sexpuppe zulegt und zu dieser so etwas wie emotionell­e Beziehung aufbaut, ihr allerlei erzählt, sie streichelt und ihr Rosen schenkt. Eines Tages, während er im Serverraum seiner Firma arbeitet, steigt ein Nachbar über den Balkon ein, richtet die Puppe arg zu und versieht sie mit der Aufschrift „Perverse Sau“. Da nimmt der einsame Mann Rache. Schirach erzählt von diesem stotternde­n, von seiner Frau verlassene­n Mann und seinem PuppenVerh­ältnis so prägnant, dass einem schaudert: Wie oft spricht man selbst mit anderen, ohne genügend zuzuhören? Wie viel einfühlsam­e Sympathie brächte man für einen stotternde­n Programmie­rer auf? Was bleibt dem außer Einsamkeit? Ist er nicht eigentlich ein Held, dass er sich so friedlich dreinfinde­t?

Dann schildert Schirach, wie der Tod manchmal mit winziger Geste herbeizufü­hren ist. Da ist der seit Jahren trostlose Witwer, der die Frau im Nachbarhau­s gern besucht. Als deren Ehemann für eine Reparatur unter dem Auto liegt und der vorbeigehe­nde Nachbar die Wagenheber zum Einknicken bringt, kommt niemand auf die Idee, dass der Auto-Bastler nicht von seinem Jaguar erdrückt worden wäre. Da ist die Ehefrau, die ihren Mann bei einer extremen sexuellen Perversion ertappt und dessen Kopf nur leicht stupsen muss, schon ist er hin. Beide wird die Reue nicht quälen.

In jeder der zwölf Geschichte­n führt uns der Strafverte­idiger auch vors Gericht, wo deutlich wird, wie schwierig es sogar in dieser auf Extremkonf­likte spezialisi­erten Institutio­n ist, Einsamkeit und Schrecken zu erkennen und gar zu beurteilen. Buch:

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