Das Leiden an Einsamkeit wird unterschätzt
Der Jurist Ferdinand von Schirach erzählt von zeitlos Verwundeten, die auf Einsamkeit oder Schrecken absurd reagieren.
„Die meisten Menschen kennen den gewaltsamen Tod nicht, sie wissen nicht, wie er aussieht, wie er riecht und welche Leere er hinterlässt“, merkt Ferdinand von Schirach am Ende seiner soeben erschienenen Sammlung zwölf kleiner Erzählungen an. Der Jurist und Strafverteidiger, der im Vorjahr die Festrede zur Eröffnung der Salzburger Festspiele gehalten hat, münzt neuerlich sein berufliches Wissen in Lesestoff um. Nach „Verbrechen“aus 2009 und „Schuld“aus 2010 ist „Strafe“der dritte derartige Band.
Freilich geht es um Straftaten der grauslichsten Art, die Schirach schonungslos beschreibt. Doch er schildert nicht den Fall, sondern er erzählt von den Menschen, die Mörder geworden sind, die mit Mördern oder Ermordeten derart in Berührung gekommen sind, dass sie selbst des Mordes bezichtigt wurden, oder die andere derart schwer verletzt haben, dass es zum Mord nicht weit gewesen wäre. Ferdinand von Schirach erzählt zwölf Schicksale in kurzen, schnörkellosen Sätzen. In solch nüchterner Umgebung wird sogar das Grauen sachlich – oder besser: Der ultimative Punkt des Grauens kommt ohne Popanz, ohne Krimi-Firlefanz zur Geltung, sondern ist herausgeschält wie ein Schauspiel auf leerer Bühne.
Im kargen sprachlichen Setting dieser kurzen Geschichten führt Schirach unsere Ahnung auf noch etwas hin, was er am Ende des Buchs einräumt: „Ich dachte an die Menschen, die ich verteidigt hatte, an ihre Einsamkeit, ihre Fremdheit und ihr Erschrecken über sich selbst.“Und was für Einsamkeiten er da entblößt! Da ist der exzellente Programmierer, der sich eine Sexpuppe zulegt und zu dieser so etwas wie emotionelle Beziehung aufbaut, ihr allerlei erzählt, sie streichelt und ihr Rosen schenkt. Eines Tages, während er im Serverraum seiner Firma arbeitet, steigt ein Nachbar über den Balkon ein, richtet die Puppe arg zu und versieht sie mit der Aufschrift „Perverse Sau“. Da nimmt der einsame Mann Rache. Schirach erzählt von diesem stotternden, von seiner Frau verlassenen Mann und seinem PuppenVerhältnis so prägnant, dass einem schaudert: Wie oft spricht man selbst mit anderen, ohne genügend zuzuhören? Wie viel einfühlsame Sympathie brächte man für einen stotternden Programmierer auf? Was bleibt dem außer Einsamkeit? Ist er nicht eigentlich ein Held, dass er sich so friedlich dreinfindet?
Dann schildert Schirach, wie der Tod manchmal mit winziger Geste herbeizuführen ist. Da ist der seit Jahren trostlose Witwer, der die Frau im Nachbarhaus gern besucht. Als deren Ehemann für eine Reparatur unter dem Auto liegt und der vorbeigehende Nachbar die Wagenheber zum Einknicken bringt, kommt niemand auf die Idee, dass der Auto-Bastler nicht von seinem Jaguar erdrückt worden wäre. Da ist die Ehefrau, die ihren Mann bei einer extremen sexuellen Perversion ertappt und dessen Kopf nur leicht stupsen muss, schon ist er hin. Beide wird die Reue nicht quälen.
In jeder der zwölf Geschichten führt uns der Strafverteidiger auch vors Gericht, wo deutlich wird, wie schwierig es sogar in dieser auf Extremkonflikte spezialisierten Institution ist, Einsamkeit und Schrecken zu erkennen und gar zu beurteilen. Buch: