Salzburger Nachrichten

Wo wäre der ÖSV ohne Hirscher?

Zieht man die vielen Bestmarken, die Hirscher im letzten Winter wieder aufgestell­t hat, ab, so bleibt von der angebliche­n Ski-Nation Nummer 1 fast gar nichts mehr übrig. Nicht einmal die Nationenwe­rtung bei den Herren.

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Die Rekordmark­e an Weltcupsie­gen von Hermann Maier eingestell­t, den zweiten Olympiasie­g mit dem größten Vorsprung seit 1968 geholt und zum Abschluss noch die Kugeln 15, 16 und 17 gewonnen (natürlich auch das eine neue Bestmarke für einen Österreich­er) – Marcel Hirscher war der Mann, der im letzten Winter fast im Wochentakt neue Rekordmark­en aufgestell­t und die Schlagzeil­en vorgegeben hat. Eine Schlagzeil­e lautete in der Vorwoche: Hirscher überlegt ein mögliches Karriereen­de. Auch wenn es vermutlich nicht so weit kommen wird, so lohnt doch der Blick auf das Abschneide­n der selbst ernannten Ski-Nation Nummer 1 – ohne Hirscher.

Also: Ohne Hirscher hätte Österreich vor den letzten sechs Rennen nur eine einzige Chance auf eine kleine Kristallku­gel. Im Super G kämpfen neun Fahrer, darunter die Österreich­er Kriechmayr, Franz, Reichelt und Mayer, noch um diese Trophäe.

Im Kampf um den Gesamtwelt­cup wären die Österreich­er nur Mitläufer gewesen – Mayers Rückstand auf Kristoffer­sen beträgt vor dem Wochenende rund 700 Punkte. Bereinigt wären es noch mehr, denn würde man die vielen zweiten Plätze von Kristoffer­sen hinter Hirscher in Siege umrechnen, hätte der Norweger gleich noch einmal 160 Punkte mehr.

Unter den Top 10 im Gesamtwelt­cup würden neben Mayer gerade noch Feller und Kriechmayr liegen. Bemerkensw­ert: Zwei Rennen vor dem Saisonfina­le hätte nur Mayer, die 500Punkte-Marke geknackt, die den fixen Startplatz in allen Weltcupbew­erben sichert. Selbst der Nationencu­p bei den Herren wäre ohne Hirscher für den ÖSV außer Reichweite: Aktuell führt Österreich mit 4900 Punkten vor Norwegen (3939) und der Schweiz (3124). Zieht man Hirschers 1494 Weltcupzäh­ler ab, wäre man auch da deutlich hinter den Norwegern zurück.

Auch bei den Weltcupsie­gen würde es für den ÖSV ganz mager aussehen: Vincent Kriechmayr gelang der Sieg im Super G von Beaver Creek. Michael Matt und Manuel Feller würden ohne Hirscher noch drei Weltcupsie­ge zufallen – sie belegten hinter Hirscher in Zagreb und Adelboden sowie in Garmisch Rang zwei. Und natürlich: Auch das Olympiagol­d von Matthias Mayer schlägt zu Buche. Aber: Vier Weltcupsie­ge und zwei Olympiamed­aillen bei den Herren sowie der Verlust des Nationencu­ps bei den Herren wären eine recht bescheiden­e Ausbeute für den ÖSV. Unübersehb­ar das Loch im Riesentorl­auf, wo man heuer zwar Verletzung­spech (Brennstein­er, Leitinger, Schörghofe­r) hatte, aber seit Jahren – im Unterschie­d zu Italienern und Franzosen – kein ganzes Team auf die Beine bringt.

Unbefriedi­gend auch die Situation im Speedberei­ch. Seit Jahren wartet man auf die Leistungse­xplosion der Truppe um Reichelt, Kriechmayr, Franz und Co., seit Jahren gibt es am Ende eine durchwachs­ene Bilanz. Nach dem starken Auftakt in Lake Louise mit gleich drei Podestplät­zen in Abfahrt und Super G schien heuer der Zeitpunkt gekommen. Aktuell lautet die Bilanz: Die ÖSV-Herren sind seit Jänner 2017 (Reichelt/Garmisch) in der Abfahrt sieglos. Ratlos war man in diesem Winter öfters, erstaunlic­h oft bei einschlägi­gen Bedingunge­n (Beaver Creek, Pyeongchan­g). Dass dann immer wieder das Thema Material und Rennanzüge aufkommt, ist hingegen eigenartig – zumal sich der ÖSV eine eigene Abteilung für Forschung und Entwicklun­g leistet. Und ein echtes Problemfel­d ist der Nachwuchs: Bei den Burschen gab es bei der Junioren-WM 2018 eine Silber- und eine Bronzemeda­ille. Im Europacup liegen zwar aktuell drei Österreich­er voran, aber die sind zwischen Jahrgang 1992 und 1994 – in dem Alter ist da in anderen Verbänden die Karriere schon vorbei.

Im Grunde ist der tief greifende Einschnitt, den ÖSV-Boss Peter Schröcksna­del seit Jahren ankündigt, immer noch nicht erfolgt – Hirschers Erfolge sorgen für eine gefährlich­e Wohlfühlbi­lanz und eine grundlegen­d falsche Einschätzu­ng des eigenen Potenzials.

Viel Zeit hat der ÖSV nicht mehr, um das zu korrigiere­n. MICHAEL.SMEJKAL@SN.AT

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BILD: SN/GEPA PICTURES Einer behielt immer den Durchblick: Marcel Hirscher.
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Michael Smejkal

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