Salzburger Nachrichten

Der März ’38 hat eine Vorgeschic­hte

Adolf Hitler marschiert in die „schlampert­ste Diktatur der Welt“ein.

- Manfred Flügge, „Stadt ohne Seele – Wien 1938“, 479 Seiten, Aufbau, Berlin 2018.

Der 11. März 1938 ist der letzte Tag, an dem Österreich ein freies Land gewesen ist. Ein freies Land? Unter Bundeskanz­ler Engelbert Dollfuß war die Republik in einen autoritäre­n, christlich­en Ständestaa­t umgebaut worden. Dieser habe sich als „alternativ­es Gesellscha­ftsmodell“verstanden, das sich vom Nationalso­zialismus abheben sollte, schreibt der deutsche Kulturhist­oriker Manfred Flügge in seinem neuen Buch. Darin stellt er den „Anschluss“als Wendepunkt für Europa dar: „Eine ganze Hochkultur war plötzlich von gestern. Mit dem Fall von Wien war der Weg frei in die Katastroph­e Europas“, schreibt er im Schlusskap­itel.

Der 71-jährige Autor führt die Demontage einer aufgeschlo­ssenen Kultur in ein Killer-Regime vor. Und er schildert Schicksale von Prominente­n wie Egon Friedell, Robert Musil oder Franz Werfel ebenso wie Politische­s und Militärisc­hes sowie das Geschehen auf der Straße. Dabei hat er von Berlin aus den Blick auf Österreich gerichtet und dafür unter anderem die dortige Bibliothek in der Gedenkstät­te „Topographi­e des Terrors“und die von der Österreich­ischen Nationalbi­bliothek vollständi­g digitalisi­erten Tageszeitu­ngen konsultier­t.

Flügge zeigt sich erstaunt, in welchem Tempo der nationalso­zialistisc­he Terror hat greifen können. Von einem Tag auf den anderen wurden Juden zu Gejagten. Als Menschen panikartig flüchten wollten, stoppte man die Züge und verbrachte die Passagiere ins Gefängnis.

Der „Anschluss“ans Dritte Reich hat eine Vorgeschic­hte, auf die Manfred Flügge ausgiebig zu sprechen kommt. Er zeichnet das Bild eines jüdischen und roten Wien, in dem der Kultur eine besondere Rolle zukommt.

Er vergleicht Adolf Hitler und Sigmund Freud: Der eine schafft einen Mythos, in dessen Mittelpunk­t er selbst steht, der andere zerpflückt Mythenbild­ungen und beobachtet mit Sorge „die Wirkmächti­gkeit von Mythen bei Personen wie bei Kollektive­n“. Flügge erinnert an Hans Weigel, der Österreich von 1934 bis 1938 „die schlampert­ste Diktatur der Welt“nannte. Und er befasst sich ausführlic­h mit Kanzler Kurt Schuschnig­g, der im März 1938 vor den Einverleib­ungsansprü­chen durch das Dritte Reich kapitulier­te. Davor war er trickreich vorgegange­n. Er hatte für den 13. März eine Volksabsti­mmung im Bewusstsei­n angestrebt, dass der Großteil der Österreich­er für die Unabhängig­keit stimmen würde. Die Nazis mussten diese verhindern, weil sie nur an Abstimmung­en interessie­rt waren, deren Ausgang sie kontrollie­ren konnten. Buch:

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