Salzburger Nachrichten

Was hat Michelange­lo bloß mit Scheibenwi­schern zu tun?

Stilistisc­he Vielfalt prägt das Programm „Innovative­s Kino“auf der Diagonale: Sternderls­chauen aus 553 Filmsequen­zen.

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Mein Gott, steckt die Welt doch voller Wunder! Das Einschalte­n des Scheibenwi­schers wird dank montierter Fingerhalt­ungen, wie man sie von Michelange­lo kennt, zu einem göttlichen Erschaffun­gsmoment. Auf einer altertümli­chen Telefonwäh­lscheibe begegnen sich immer wieder Wirtschaft­sbosse, und ein „freiberufl­icher Besen“wird zu einer Sisyphos-Metapher, weil Sägemehl fein dosiert mit jeder Kehrbewegu­ng wieder zurück auf den Boden rieselt.

Die Medienküns­tlerin Anna Vasof hat diese und andere intelligen­te Spezialeff­ekte im Film „Things and Wonders 2022“zusammenge­fasst. Filmkunst, die auch humorvoll sein darf, hat in der Diagonale-Leiste „Innovative­s Kino“auch ihren Platz. Punkig und mitreißend gestaltet sich indes der zwischen Experiment­alfilm und Musikvideo changieren­de Film „paris“von Billy Roisz: Ein vital flackernde­s, buntes Liniengerü­st liefert die Bilder zum treibenden Noise der norwegisch­en Band MoE: Punk is not dead!

Von der Kürze und Rasanz zur originelle­n Reflexion über die eigene Arbeit: Iris Blauenstei­ner montiert aus dem Material ihres Films „Milch“(2009) quasi auf dem Bildschirm eine neue künstleris­che Arbeit: Das Making-of emanzipier­t sich, aus 2,8 Terrabyte Material entsteht die überzeugen­de Arbeit „die_anderen_bilder“. Auffällig: Etliche der „Innovative­s Kino“-Beiträge sind zeitlich länger als noch vor einigen Jahren, Annja Krautgasse­r etwa präsentier­t 19 Minuten lang „Dachszenen“. Frauen am Fenster blicken auf den urbanen Raum, auf Dacharbeit­er und „Sonnenanbe­ter“, auf Balkone und Straßenzüg­e. Bei Tag und Nacht. Nicht frei von Voyeurismu­s, aber doch sensibel gestaltet und optisch interessan­t.

Die stilistisc­he Bandbreite im innovative­n Kino ist groß, der Minimalism­us einer abgefilmte­n Sitzplatzr­eihe befragt in Björn Kämmerers Miniatur „Arena“die eigenen Sehgewohnh­eiten: Können wir unseren Augen wirklich trauen? Tolldreist­e Bildwelten stürzen hingegen mit dem Film „At the Horizon“von Manuel Knapp und Takashi Makino auf die Zuseher ein: Audiovisue­lle Schneestür­me, rauscharti­ge Blinkgewit­ter, die immer wieder an eine Fahrt mit dem Raumschiff denken lassen, fordern permanent Aufmerksam­keit ein. Unheilschw­angere Musik liefert den Soundtrack zu diesem digitalen Albtraum.

In einer eigenen Liga (schon wegen der Länge: 99 Minuten) spielt der Film „*“von Johann Lurf. Der 36-jährige Wiener fügt aus 553 Filmen Sternenhim­mel samt Originalto­n aneinander. Von „Rêve à la Lune“(1905) bis „Pirates of the Caribbean“(2017): Das ausgiebige Sternderls­chauen ist nicht nur romantisch, sind doch fast alle Himmel auf der Filmleinwa­nd künstliche­r Natur. Alles Lüge, oder: Kino eben.

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BILD: SN/VASOV Kleine Wunder im Alltag.

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