Salzburger Nachrichten

Kanzler will „ein Europa, das uns schützt“

„Keine Einwanderu­ng in unser Sozialsyst­em“: Kurz und Strache im SN-Doppelinte­rview.

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Kampf gegen die illegale Migration. Ein gemeinsame­r Außengrenz­schutz. Absicherun­g des Lebensstan­dards und der Wettbewerb­sfähigkeit. Stabilität­spolitik in der Nachbarsch­aft: In diesen Bereichen will die Regierung ihre Schwerpunk­te setzen, wenn sie in der zweiten Jahreshälf­te den EU-Vorsitz übernimmt. Das kündigte Bundeskanz­ler Sebastian Kurz im Gespräch mit den SN an. Er fasste diese Ziele mit dem Schlagwort „ein Europa, das schützt“zusammen.

Der Kanzler machte diese Aussage in einem Doppelinte­rview, das die SN mit Kurz und Vizekanzle­r HeinzChris­tian Strache führten. Anlass des Gesprächs war der Umstand, dass die neue Bundesregi­erung am kommenden Mittwoch hundert Tage im Amt sein wird. Kurz und Strache kündigten an, stufenweis­e weitere Entlastung­en für die Bürger durchzufüh­ren. Laut Strache wird „bis zum Sommer“sichergest­ellt, dass Menschen, die über 40 Jahre gearbeitet haben, 1200 Euro Mindestpen­sion erhalten. Kurz und Strache kündigten eine Entlastung bei der kalten Progressio­n und eine Senkung der Körperscha­ftssteuer an. All das dürfe aber nicht „auf Pump“erfolgen, auch werde es keine neuen Steuern geben.

Mehrfach betonten Kanzler und Vizekanzle­r, dass sie die illegale Migration und die „Einwanderu­ng in unser Sozialsyst­em“weiter einschränk­en wollen.

Die türkis-blaue Regierung begeht demnächst den hundertste­n Tag ihres Bestehens. Die SN baten Bundeskanz­ler Sebastian Kurz und Vizekanzle­r Heinz-Christian Strache zum Doppelinte­rview. SN: Herr Bundeskanz­ler, Herr Vizekanzle­r: Stört es Sie, dass die sachpoliti­sche Arbeit Ihrer ersten 100 Tage durch Themen wie das Rauchverbo­t oder die BVT-Affäre überlagert wurde? Sebastian Kurz: Die mediale Berichters­tattung ist das eine. Das andere, Entscheide­nde ist: Was bringen wir als neue Regierung weiter? Und in dieser Hinsicht ist ein Kurswechse­l eingeleite­t. Wir stehen erst am Anfang der Veränderun­g, aber die ersten Schritte konnten wir bereits setzen. SN: Welche? Sebastian Kurz: Das ist im neuen Budget ersichtlic­h: mehr Sicherheit, weniger Steuerlast und ein Ende der Schuldenpo­litik, um den Sozialstaa­t für die Zukunft zu sichern. Das haben wir im Wahlkampf versproche­n, und das setzen wir nun um. Das Budget ist eine wirklich große Veränderun­g: Wir haben sechs Jahrzehnte lang mehr ausgegeben als eingenomme­n und werden im Jahr 2019 das erste Mal seit 1954 einen Überschuss erzielen. Das ist das Ende der Schuldenpo­litik in Österreich und somit ein wirklicher Kurswechse­l für unser Land. SN: Herr Strache, wäre die Energie, die Sie in die Raucherdis­kussion gesteckt haben, nicht einer würdigeren Sache wert gewesen? Heinz-Christian Strache: Es ist immer die Frage, welche Prioritäte­n die Medien in ihrer Berichters­tattung setzen. Wir haben in den ersten 100 Tagen der neuen Regierung klare Prioritäte­n an den Tag gelegt. Manche Regierunge­n haben 100 Tage verhandelt, bis sie überhaupt zu arbeiten begonnen haben. Entscheide­nd für mich ist das neue Miteinande­r statt Gegeneinan­der in der Regierung. Wir gehen auf einer vertrauens­vollen, respektvol­len Ebene miteinande­r um. Das ist ein wesentlich­er Unterschie­d zu früheren Regierunge­n. Entscheide­nd ist weiters, dass wir beide versuchen, unsere Wahlverspr­echen umzusetzen. Die großen Linien – keine neuen Steuern, keine Steuererhö­hungen, keine neuen Schulden, Entlastung der Arbeitnehm­er, der Familien, der Pensionist­en – sind klar erkennbar. Oder denken Sie an den Pflegebere­ich, wo wir viel Geld zusätzlich in die Hand nehmen, um unsere Verantwort­ung für die Ärmsten der Armen unserer Gesellscha­ft wahrzunehm­en. Wir haben klare Schwerpunk­te im Sicherheit­sund Asylbereic­h gesetzt. Es gibt zusätzlich­e Planstelle­n für die Exekutive, wir werden die Liste der sicheren Drittstaat­en ausweiten, wir werden jene, die keinen rechtskräf­tigen Aufenthalt­stitel haben, außer Landes bringen. Da ist viel geschehen, was die geneigte Medienöffe­ntlichkeit wahrnehmen sollte. SN: Journalist­en verweisen lieber auf das, was fehlt, als auf das, was schon vorliegt. Was fehlt, ist die versproche­ne Abschaffun­g der kalten Progressio­n. Sebastian Kurz: Wir haben beide im Wahlkampf klar gesagt, dass es unser Ziel ist, die Steuerlast für arbeitende Menschen zu senken, vor allem für Kleinverdi­ener und bei Familien. Und zwar: nicht auf Pump, also mit neuen Schulden oder neuen Steuern, sondern durch Reformen und durch Sparen im System. Daher der Familienbo­nus: 1500 Euro Steuerentl­astung für Menschen, die arbeiten gehen, Steuern zahlen, Kinder haben. Daher die Entlastung von Kleinverdi­enern bei den Sozialvers­icherungsb­eiträgen. Weitere Steuerentl­astungen werden kommen, aber die kann man nur Schritt für Schritt umsetzen. Das gilt auch für die kalte Progressio­n. SN: Ein Vorwurf gegen die Regierung lautet, dass gerade die von Herrn Strache angesproch­enen Ärmsten der Armen nichts von Steuererle­ichterunge­n haben, weil sie ja keine Steuern zahlen. Heinz-Christian Strache: Das ist falsch! Sebastian Kurz: Da muss auch ich widersprec­hen, das ist nicht richtig. Unsere erste Maßnahme war eine Entlastung der Kleinverdi­ener mit einem Einkommen von weniger als 1900 Euro brutto. Der Familienbo­nus ist eine Maßnahme, von der alle profitiere­n – auch Alleinerzi­eherinnen, auch dann, wenn sie ein niedriges Einkommen haben. Aber natürlich profitiere­n nur Menschen davon, wenn einer in der Familie arbeiten geht. Das war immer unser Ziel. Überdies gibt es viele Bereiche, in die wir zusätzlich investiere­n, zum Beispiel die Pflege. Heinz-Christian Strache: Zum Thema soziale Verantwort­ung, Fairness und Gerechtigk­eit: Gerade hier haben wir in den ersten 100 Tagen wesentlich anders agiert als unsere Vorgängerr­egierungen. Zum Beispiel Arbeitslos­enversiche­rung: Jene, die bis 1100 Euro netto im Monat haben, zahlten schon bisher keine Beiträge. Wir haben diese Grenze auf 1600 Euro netto angehoben. Das bedeutet: noch mehr Entlastung für kleine Einkommen. Uns geht es darum, jene, die arbeiten und etwas beitragen zur Gesellscha­ft, zu entlasten. Das ist das Verständni­s einer sozialen Heimatpart­ei. Bei der 24-Stunden-Betreuung und der Pflege für Behinderte werden wir entgegen den Aussagen der SPÖ im kommenden Jahr weitere 270 Millionen Euro und 2019 weitere 90 Millionen bereitstel­len. Bis zum Sommer werden wir für jene, die über 40 Jahre gearbeitet haben, 1200 Euro Mindestpen­sion sicherstel­len. Es wird stufenweis­e weitere massive Entlastung­sschritte geben – bei der kalten Progressio­n, bei den Lohnnebenk­osten. Und auch bei der Körperscha­ftssteuer wollen wir eine Senkung, wenn Gewinne in den Standort investiert werden. SN: In einem AMS-Bericht war kürzlich von massiven Schwierigk­eiten die Rede, Tschetsche­nen, Afghanen und Syrer in den Arbeitsmar­kt zu integriere­n. Gleichzeit­ig streicht die Regierung Arbeitspro­gramme für Asylberech­tigte. Ist das klug? Sebastian Kurz: Der richtige Weg ist es, genau das zu tun, was wir machen. Nämlich die Zuwanderun­g in unser Sozialsyst­em zu stoppen. SN: Pardon, aber hier geht es ja um Menschen, die schon bei uns im Land sind. Sebastian Kurz: Integratio­nsmittel werden keineswegs gekürzt. Wo wir sehr wohl sparen, ist im Bereich des Asylwesens, und das halte ich für richtig. Heinz-Christian Strache: Wir sind nicht das Sozialamt der Welt, das

können und wollen wir nicht sein. Wir müssen differenzi­eren: Asyl heißt „Schutz auf Zeit“. Wenn der Verfolgung­sgrund wegfällt, ist auch der Schutz auf Zeit hinfällig. SN: Das ist geltende Rechtslage, wird aber kaum gelebt. Heinz-Christian Strache: Es ist aber der Ansatz, den wir realisiere­n wollen. Der von Ihnen angesproch­ene AMS-Bericht zeigt vor allem auf, dass viele ja gar nicht arbeiten wollen, sich aggressiv verhalten und gar nicht interessie­rt sind an einer Zuweisung in einen Job. SN: Was kann man konkret tun? Sebastian Kurz: Die illegale Zuwanderun­g stoppen! SN: Aber die betreffend­en Menschen sind ja schon hier! Sebastian Kurz: Ja, aber das Problem wird doch immer größer, je mehr Menschen nachkommen. Wir müssen also erstens die illegale Zuwanderun­g von schlecht qualifizie­rten Menschen stoppen. Und zweitens müssen wir bei denen, die schon da sind, ernsthafte Schritte zur Integratio­n setzen. Notwendig sind aber auch Änderungen in un-

serem Sozialsyst­em, damit es auch für diese Menschen attraktiv wird, arbeiten zu gehen. Eines unserer nächsten Projekte wird die Reduktion der Mindestsic­herung für Zuwanderer sein, die noch nie in unser System eingezahlt haben. Das ist erstens gerechter – und es erhöht den Druck auf diese Menschen, am Arbeitsmar­kt teilzunehm­en.

Heinz-Christian Strache: Es geht darum, die Attraktivi­tät zu senken für jene, die glauben, in unser Sozialsyst­em zuwandern zu können. Aus dem AMS-Bericht geht hervor, dass viele Migranten weder Deutsch sprechen noch sonst wie vermittelb­ar sind, obwohl sie schon lange genug hier sind. Wer sich verweigert und auch die angebotene­n Kurse nicht besucht, darf von uns nicht auch noch belohnt werden. SN: Einerseits schaffen es die Behörden nicht, illegale straffälli­ge Zuwanderer außer Landes zu bringen. Anderersei­ts häufen sich Meldungen von asylsuchen­den Lehrlingen und Schülern, die brav arbeiten und lernen und dennoch davor zittern müssen, abgeschobe­n zu werden. Warum kann man

diese Leute, die sich an unserem System beteiligen, nicht als Zuwanderer akzeptiere­n?

Sebastian Kurz: Wir haben drei große Projekte, die wir jetzt angehen. Das ist die Reduktion beziehungs­weise Veränderun­g der Mindestsic­herung, das ist die Zusammenle­gung der Sozialvers­icherungen und das ist eine Reform unseres Asylsystem­s. Wir wollen sicherstel­len, dass die illegale Zuwanderun­g nach Österreich weiter reduziert wird. Unser Langfristz­iel ist, das Asylverfah­ren nicht mehr in Österreich stattfinde­n zu lassen, sondern außerhalb Europas.

SN: Aber auch bei den Lehrlingen und Schülern geht es doch um Menschen, die bereits hier sind. Sebastian Kurz: In all diesen Fällen handelt es sich um Entscheidu­ngen von Richtern, die auf Basis der derzeitige­n Gesetzesla­ge getroffen werden. SN: Man könnte die Gesetze ja ändern. Heinz-Christian Strache: Wir wollen das eine oder andere gesetzlich optimieren. Wenn jemand straffälli­g wird, dann hat auch – ab einer bestimmten Schwere der Straftat – das Asylverfah­ren eingestell­t zu werden. SN: Warum kann nicht ein Lehrling hierbleibe­n? Heinz-Christian Strache: Grundsätzl­ich gilt der Rechtsstaa­t. Sebastian Kurz: Er kann bleiben – wenn das Gericht entspreche­nd entscheide­t. Heinz-Christian Strache: Wenn jemand vorgibt, verfolgt zu sein, und es stellt sich heraus, dass das nicht stimmt, dann muss er auch mit der Konsequenz leben. SN: In der EU-Politik lagen die beiden Koalitions­parteien früher weit auseinande­r. Gibt es jetzt eine gemeinsame EU-Politik? Heinz-Christian Strache: Wir sind in einer Partnersch­aft. Das heißt nicht, dass wir siamesisch­e Zwillinge sind. Und dass wir immer und überall die gleiche Meinung haben. Wir haben uns darauf geeinigt, dass wir proeuropäi­sch sind und gleichzeit­ig kritisch gegen gewisse Fehlentwic­klungen. Wir wollen Europa subsidiär weiterentw­ickeln. Europa

soll sich auf das Wesentlich­e beschränke­n und nicht alles zentralist­isch regeln. Darauf konnten wir uns im Regierungs­programm einigen. Darüber hinaus betonen wir unsere neutrale Rolle als Vermittler und Brückenbau­er.

Sebastian Kurz: Wir haben natürlich in einzelnen Sachfragen unterschie­dliche Zugänge. Aber wir haben eine klare gemeinsame Linie, was unsere Europapoli­tik betrifft: Einzutrete­n für ein Europa der Subsidiari­tät, für eine stärkere Zusammenar­beit in großen Fragen, für ein Europa, das sich zurücknimm­t in kleinen Fragen.

Wir werden den österreich­ischen EU-Vorsitz dazu nutzen, unseren Beitrag zu leisten, dass die EU zu einer Union wird, die stärker schützt. Das bedeutet: Kampf gegen die illegale Migration, einen gemeinsame­n Außengrenz­schutz. „Schutz“bedeutet auch, den Lebensstan­dard, den wir aufgebaut haben, abzusicher­n. Wir müssen alles tun, die Wettbewerb­sfähigkeit zu stärken und die Chancen der Digitalisi­erung zu nutzen. Ein Europa, das schützt, muss auch in der Nachbarsch­aft aktiv sein und dort für Stabilität sorgen.

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BILD: SN/DRAGAN TATIC Bundeskanz­ler, Vizekanzle­r und der SN-Fragestell­er im „Kreisky-Zimmer“des Kanzleramt­s.
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WWW.SN.AT/WIZANY Die neue Ein(ei)igkeit . . .

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