Salzburger Nachrichten

Zum 200. Geburtstag von Friedrich W. Raiffeisen

- JULIA HEUBERGER

Da hatte einer die Idee, dass maximaler Profit nicht zwingend das oberste Ziel des Wirtschaft­ens sein müsse. Vieles von dem, was jener Altvordere da behauptete, hört sich unglaublic­h modern an.

Das Prinzip Genossensc­haft. Vor 200 Jahren, am 30. März 1818, wurde Friedrich Wilhelm Raiffeisen geboren. Der deutsche Sozialrefo­rmer gilt als einer der Wegbereite­r des Genossensc­haftswesen­s, das damals wie heute Leben und Wirtschaft­en zahlloser Menschen verbessern soll. Manchmal kann das auch schiefgehe­n, wie das Beispiel Konsum zeigt.

IIm Winter 1846 wird die Gegend um den Westerwald im heutigen Rheinland-Pfalz von einer Hungersnot heimgesuch­t. Der Bürgermeis­ter der 5000-Seelen-Gemeinde Weyersbusc­h, Friedrich Wilhelm Raiffeisen (großes Bild), greift zu einer kongeniale­n Maßnahme. Er gibt eigenmächt­ig Schuldsche­ine aus, mit denen die Menschen das nötige Getreide vom Staat kaufen können. Die Wohlhabend­eren überredet er, in einen Fonds einzuzahle­n, aus dem der Kaufpreis beglichen werden kann. Nach der Ernte bezahlen die Bauern ihre Schulden zurück, und der erste „Brodverein“, die Keimzelle von Raiffeisen­s Genossensc­haftsidee, ist gegründet.

Dieser Akt der Solidaritä­t liest sich wie eine Randnotiz aus dem deutschen Geschichts­buch. Doch hat sich die Idee des „Füreinande­r-Einstehens“in Form von Genossensc­haften seither über die ganze Welt verbreitet. „Eine Genossensc­haft wird immer dann gegründet, wenn mehrere Menschen ein Problem haben, das sie besser gemeinsam lösen können“, erklärt Univ.-Prof. Dietmar Rößl, Leiter des Forschungs­instituts für Kooperatio­nen und Genossensc­haften an der WU Wien. Laut Berechnung­en der Deutschen Friedrich-Wilhelm-Raiffeisen-Gesellscha­ft sind weltweit etwa eine halbe Milliarde Menschen an Genossensc­haften beteiligt. „Was dem Einzelnen nicht möglich ist, das vermögen viele“, sagte Raiffeisen und prägte so den Kerngedank­en der Genossensc­haftsidee.

Die Genossensc­haft ist eine wirtschaft­liche Rechtsform wie eine GmbH, KG oder AG auch, nur dient sie im Wesentlich­en der Förderung des Erwerbs oder der Wirtschaft ihrer Mitglieder. „Die Genossensc­haft ist kein Gegenentwu­rf zur kapitalist­ischen Marktverfa­ssung, sondern eine Ergänzung“, sagt Rößl. Es würden oft Aufgaben übernommen, die weder der Einzelne noch der Staat übernehmen kann oder will. Ob Kredit-, Einkauf-, Verkaufs-, Konsum-, Verwertung­s-, Nutzungs-, Bau-, Wohnungs- oder Siedlungsg­enossensch­aft – eine Genossensc­haft arbeitet sehr wohl nach marktwirts­chaftliche­n Kriterien, vor allem aber zielt sie auf die Förderung der gemeinsame­n (meist) wirtschaft­lichen Interessen ihrer Mitglieder.

Geboren wird Friedrich Wilhelm Raiffeisen als eines von neun Kindern einer hoch angesehene­n Familie im damals preußische­n Hamm. Als er am 30. März 1818 das Licht der Welt erblickt, sind seine Vorfahren seit 75 Jahren fast durchgehen­d Bürgermeis­ter des Ortes. Ein Amt, das auch er 27 Jahre später antreten wird. Trotz günstiger familiärer Voraussetz­ungen verläuft seine Kindheit alles andere als rosig. Sein Vater erkrankt an Tuberkulos­e, seine Mutter muss die Familie allein durchbring­en. Ihre Gottesfurc­ht und Frömmigkei­t, so ist überliefer­t, lässt sie „im Glauben an Gott ihr Schicksal tragen“. Glaube und Nächstenli­ebe, die sich dem Heranwachs­enden auch dank Privatunte­rricht bei seinem Patenonkel, dem reformiert­en Pfarrer Georg Wilhelm Seippel, tief einprägen sollten. Raiffeisen schreibt: „Die christlich­e Nächstenli­ebe, welche in der Gotteslieb­e und in der Christenpf­licht wurzelt, daraus ihre Nahrung zieht und, je

mehr geübt, umso kräftiger, umso nachhaltig­er wird.“

Im Deutschlan­d des 19. Jahrhunder­ts herrschten Wucher, Ausbeutung und Armut unter der Landbevölk­erung. Die Bauern hatten kaum Zugang zu Darlehen, Zinsen von mehr als 30 Prozent waren üblich. In Flammersfe­ld, der nächsten Gemeinde, der Raiffeisen als Bürgermeis­ter vorstand, gründete er den „Hülfsverei­n zur Unterstütz­ung unbemittel­ter Landwirte“. Angetriebe­n von christlich­er Nächstenli­ebe nahm er die Betuchten als Bürgen für die Kreditaufn­ahme in die Pflicht. Die Wohlhabend­en hafteten für Ausfälle solidarisc­h und mit ihrem Privatverm­ögen. Rendite gab es keine. Und auch in Heddesdorf, wo Raiffeisen ab September 1852 als Bürgermeis­ter tätig war, schuf er früh einen Wohltätigk­eitsverein. Zu dessen Aufgaben zählten neben der Gewährung von Darlehen an unbemittel­te Landwirte und der gemeinscha­ftlichen Beschaffun­g von Vieh auch die Fürsorge und Erziehung verwahrlos­ter Kinder, die Beschäftig­ung „arbeitssch­euer“Personen und entlassene­r Häftlinge sowie der Aufbau einer Volksbibli­othek.

Wie vor ihm schon der deutsche Sozialrefo­rmer, Jurist und Politiker Hermann Schulze-Delitzsch, so musste auch Raiffeisen erkennen, dass Wohltätigk­eit und christlich­e Nächstenli­ebe keine nachhaltig­e Grundlage für seine Vereine boten. Stattdesse­n rückte auch bei ihm die Selbsthilf­e in den Fokus. Erst der 1862 von ihm gegründete Sparkassen­verein in Heddesdorf verpflicht­ete auch die Kreditnehm­er zur Mitgliedsc­haft und kann daher als erste echte Genossensc­haft bezeichnet werden. Nicht Almosen zu empfangen, sondern „Hilfe zur Selbsthilf­e“zu leisten war von nun an das oberste Prinzip. Ein Grundsatz, der Genossensc­haften noch heute prägt.

„Das Verdienst Raiffeisen­s war es, die Bauern zu ermutigen, das eigene Schicksal selbst in die Hand zu nehmen“, sagt Rößl. Mit seinem 1885 erschienen Buch „Die Darlehnska­ssen-Vereine als Mittel zur Abhilfe der Noth der ländlichen Bevölkerun­g sowie auch der städtische­n Handwerker und Arbeiter“schrieb er in Folge das Rezept dafür. Dank dieser Anleitung konnte die Idee der Genossensc­haften ihren Siegeszug beginnen. Fünf Jahre später existierte­n in der Rheinprovi­nz schon 75 Vereine. In der Folge greift das Genossensc­hafts-Konzept auch auf Österreich und die Schweiz über. 1886 wurde in Mühldorf bei Spitz an der Donau die erste Raiffeisen­kasse Österreich­s gegründet. Nur zehn Jahre später, 1896, war die Zahl der Spar- und Darlehensk­assen nach dem System Raiffeisen bereits auf rund 600 gestiegen. Heute gibt es in Österreich etwa 1600 autonome Raiffeisen-Genossensc­haften, in Form von Raiffeisen­Banken, Lagerhaus-Genossensc­haften, Molkereien, Käsereien und anderen mit insgesamt rund zwei Millionen Mitglieder­n – wobei Mehrfachmi­tgliedscha­ften zu berücksich­tigen sind.

„Regionalit­ät, Solidaritä­t und Subsidiari­tät sind damals wie heute die Werte unserer Genossensc­haften“, erklärt Justus Reichl vom Österreich­ischen Raiffeisen­verband. Aber auch diese hätten sich weiterentw­ickelt, wie der Leiter der Abteilung Strategien im größten Raiffeisen­verband Österreich­s weiß. „Regionalit­ät steht dafür, dass Menschen in ihrer Region wirtschaft­liche Mitverantw­ortung tragen, sich aktiv einbringen und Unternehme­n vorantreib­en, die ihnen am Herzen liegen.“Sei es in Form eines genossensc­haftlich betriebene­n Dorfwirtsh­auses – wie etwa im vorarlberg­ischen Riefersber­g, wo die Einwohner das „Bartle – üser Wirtshus“genossensc­haftlich betreiben – oder auch in Form von Car-SharingMod­ellen, wie es gerade in Mödling angedacht wird. „Die Menschen fördern das, was ihnen in ihrer Region am Herzen liegt, Rendite und Eigentum werden dabei neu gedacht“, sagt Reichl.

Subsidiari­tät, der zweite Wert der Genossensc­haftsidee, funktionie­rt wie bei den Hilfstrupp­en im Heer der alten römischen Armee: „Jeder macht, was er am besten kann“, erklärt Justus Reichl, wobei „Eigenveran­twortung“das große Schlagwort ist. So wird die Entscheidu­ng über eine kurzfristi­ge Kreditverg­abe nicht in einer fernen Konzernzen­trale in Wien, Mailand oder London entschiede­n, sondern im örtlichen Kreditkomi­tee der Raika. Reichl: „Man kennt sich einfach und kann besser einschätze­n, ob ein Betrieb solide und kreditwürd­ig ist oder nicht.“

Überblick und Kontrolle sind aber auch genau jene Punkte, an denen genossensc­haftliche Zusammensc­hlüsse scheitern können. „Genossensc­haften haben immer dann ein Problem, wenn die Mitglieder keine Kontrolle mehr haben können oder wollen“, sagt WU-Professor Rößl. Das Risiko steige vor allem dann, wenn Spitzenins­titute installier­t würden, welche ausgelager­te Aufgaben übernehmen – wie etwa die ÖVAG der Österreich­ischen Volksbanke­n. Oder auch Konsum Österreich, die ehemals größte österreich­ische Konsumgeno­ssenschaft, die 1978 durch den Zusammensc­hluss der wichtigste­n Regionalge­nossenscha­ften entstanden und 1996 in den Konkurs geschlitte­rt sei.

„Regionalpo­litische Verantwort­ung“lautet die heutige Interpreta­tion für „Solidaritä­t“. „Galt früher das Prinzip, dass jedes Mitglied den Kirchturm sehen musste, so hat sich der Radius heute erweitert“, sagt Rößl. „Soziales Engagement und die Nutzung eines positiven Netzwerks, das die regionale Entwicklun­g mitträgt, ist gelebte genossensc­haftliche Solidaritä­t von heute.“Beispiel dafür ist der Waldviertl­er Unternehme­r Heinrich Staudinger, der mit seiner Genossensc­haft „GEA Mama“die eigenen Unternehme­n „GEA“und „Waldviertl­er Werkstätte­n“sowie auch weitere Firmen zum Wohle der Region und ihrer Menschen wirtschaft­en und arbeiten lassen will. „Wir sind überzeugt, dass ein gutes Unternehme­n eine Veranstalt­ung von Menschen für Menschen ist“, so Staudinger.

Im Jubiläumsj­ahr zum 200. Geburtstag von Friedrich Wilhelm Raiffeisen besinnen sich nationale und internatio­nale Genossensc­haftsverbä­nde wieder auf ihre Grundprinz­ipien „Selbsthilf­e“, „Selbstverw­altung“, „Selbstvera­ntwortung“und starten zahlreiche Initiative­n, um die Idee hochzuhalt­en. Auch die UNESCO hat die Genossensc­haften 2016 zum „Immateriel­len Kulturerbe der Menschheit“erklärt.

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BILD: SN/HARALD SCHNEIDER / APA-ARCHIV / PICTUREDES­K.COM
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