Ein Spiel, das viel veränderte
Das 1:7 im WM-Halbfinale gegen den späteren Weltmeister Deutschland ist in die brasilianische Folklore eingegangen. Am Dienstag besteht die Chance auf Revanche für die Seleção.
Niemand in Brasilien wird diesen 8. Juli 2014 jemals vergessen. Der Abend im Mineirão-Stadion in Belo Horizonte hat sich in das kollektive Bewusstsein eines Landes eingebrannt, das sich im Fußball für unverwundbar hielt. Allzumal bei der Heim-WM, selbst im Halbfinale gegen Deutschland. Aber das 1:7, die historische Niederlage gegen den späteren Weltmeister, hat auch vieles verändert. Im Fußball, aber auch darüber hinaus. „Das 1:7 wird niemals überwunden werden“, sagt Breiller Pires, Fußball-Experte beim Sportsender ESPN. „Und es ist längst in die brasilianische Folklore eingegangen.“ Klaus Ehringfeld berichtet für die SN aus Südamerika
Wenn irgendwo in einer Straße ein Schlagloch ist, heißt es: „Ach, wieder ein 1:7.“Ein politischer Skandal wie die Absetzung der brasilianischen Präsidentin Dilma Rousseff Ende August 2016 – auch das ein Eins-zu-sieben. Die Niederlage gegen Deutschland steht in dem größten südamerikanischen Land metaphorisch für Pleiten, Pech und Pannen.
Aber die sportlichen Narben des Spiels sind weitgehend verheilt. Nationaltrainer Tite befreite die Seleção im Juni 2016 vom Betonfußball des Ex-Stuttgarters Dunga. Da lag die Mannschaft nach dem sechsten Spieltag der WM-Qualifikation in Südamerika auf dem sechsten Platz, die WM in Russland war ernsthaft in Gefahr. Seither eilen die Brasilianer von Sieg zu Sieg. Nach einer letztlich ausgesprochen souveränen WM-Qualifikation mit nur einer Niederlage und zehn Punkten Vorsprung auf den Zweitplatzierten Uruguay ist aus der Schießbude von 2014 vier Jahre später ein Titelanwärter für Russland geworden.
Trainer Tite baut für das Projekt „Hexacampeão“, den sechsten Titel, vor allem auf Spieler, die in großen Vereinen in Europa auf dem höchsten Niveau spielen. „Für den Trainer ist die Champions League das Maß aller Dinge“, sagt Breiller Pires. Das mache zum Beispiel auch eine WM-Teilnahme des Ex-Bremers und jetzigen Schalker Verteidigers Naldo unwahrscheinlich. „Tite weiß, dass Naldo trotz seines Alters ein sehr verlässlicher Spieler ist. Aber er spielt halt mit seinem Verein nicht auf höchstem Niveau“, so Pires.
Insgesamt ist die Seleção 2018 vor allem fußballerisch besser und stabiler als die von 2014. Ein ähnlicher Zusammenbruch wie im Halbfinale von Belo Horizonte würde ihr nicht mehr passieren, nur weil Neymar fehlt. Am Freitag gewannen die Brasilianer in Russland auch ohne ihren Anführer gemütlich mit 3:0. „Sie wissen, dass sie gut sind und den Titel holen können, aber die Überheblichkeit von vor vier Jahren ist einer Nüchternheit gewichen“, ergänzt Seleção-Kenner Pires.
Am Dienstag gegen den Weltmeister geht es für Tite vor allem darum zu schauen, wie sein Team gegen ein Weltklasseteam auch ohne Neymar funktioniert. Der momentan einen Haarriss im Fuß ausheilende Stürmer von Paris SaintGermain ist der wichtigste Kreativspieler der Brasilianer. „Er hat keinen festen Platz auf dem Feld, rochiert zwischen Mittelfeld und Angriff, Zentrum und außen, bereitet vor und schließt ab“, erläutert Pires. Er ist nach Gabriel Jesus von Manchester City mit sieben Toren zweitbester Schütze der Nationalmannschaft unter Tite. In dieser Multifunktion sei er kaum zu ersetzen. „Zumal seine Mitspieler auf dem Feld immer ihn suchen.“Auch in der WM-Qualifikation hat sich gezeigt, dass Brasilien nur mit Neymar wirklich überragend war.
Ohne den teuersten Fußballer der Welt sei das Auftreten als Team fundamental, beharrt der Trainer. „Wegen seiner Qualitäten ist er un- ersetzbar, und wir müssen das mit einer größeren Mannschaftsleistung ausgleichen. Wir müssen die Stärke haben, Widrigkeiten wie diese zu überwinden.“
Die neuen Erfolge der Seleção täuschen darüber hinweg, dass der brasilianische Fußball lang noch nicht aus der Krise heraus ist. Nach dem Aus bei der WM 2014 sollten Reformen die veralteten Strukturen aufbrechen. „Die Reformen gibt es auf dem Papier, aber nicht in der Praxis“, kritisiert Breiller Pires. Die Verbände haben nach wie vor zu viel Macht, die Clubs zu wenig. Die Trainerausbildung hinkt gegenüber Ländern wie Argentinien dramatisch hinterher. Und der nationale Fußball ist nicht wirklich konkurrenzfähig. Beim Finale der Club-WM zwischen Grêmio Porto Alegre und Real Madrid im Dezember waren die Brasilianer trotz der knappen 0:1-Niederlage chancenlos. Das Torschussverhältnis lag am Ende bei 16:1 zugunsten der Spanier.
Nach wie vor ein großes Problem ist zudem, dass die Talente Brasilien schon in sehr jungen Jahren verlassen, sodass viele Fans die Stars nur aus dem Fernsehen kennen. Philippe Coutinho vom FC Barcelona verließ die Heimat mit 18 Jahren, Roberto Firmino (FC Liverpool) kam mit 19 Jahren zur TSG Hoffenheim. Für Vinícius Júnior, eines der größten Talente des Landes, zahlte Real Madrid 45 Millionen Euro an Flamengo Rio de Janeiro. Da war der Linksaußen gerade 16 Jahre alt. Im Sommer schon wird er nach Spanien wechseln, kaum 18 Jahre alt.
Dafür drehen Spieler wie der Ex-Bremer Diego vor dem Karriereende noch letzte Runden in der heimischen Liga. Der Mittelfeldspieler ist inzwischen 33 Jahre und Mannschaftskamerad von Vinícius. Für die WM in Russland wird es wohl nicht mehr reichen. „Tite bezweifelt, dass Diego den Strapazen körperlich gewachsen ist“, sagt Experte Pires. „Und in der Seleção hat er auch nur selten überzeugt.“