Wer riskiert ein blaues Auge?
Noch ein Jahr bleibt bis zum EU-Austritt Großbritanniens. Es ist ein Szenario, das kaum Gewinner kennt.
LONDON. An einem sonnigen Morgen wartete kürzlich eine beachtliche Menge von Menschen an der Themse auf einen Fischkutter. Unter den Versammelten im Zentrum Londons waren einige der lautstärksten Unterstützer des EU-Austritts Großbritanniens, etliche Journalisten, Aktivisten und Schaulustige. Dieser Tag hatte trotz des üblichen Getöses etwas besonders Absurdes.
Als das kleine Boot mit dem Namen „Holladays“nämlich endlich beladen mit protestierenden Fischern sowie kistenweise Fisch antuckerte, wurde schnell klar, dass hier nicht das von den Brexiteers versprochene große Spektakel zu erwarten war. Am Parlament in Westminster endete die Reise und Nigel Farage, Europaparlamentarier und ehemaliger Vorsitzender der EU-feindlichen Unabhängigkeitspartei Ukip, stieg auf das Boot, um von da kiloweise toten Schellfisch im Fluss zu versenken – angeblich sein Lieblingsspeisefisch. Beobachter verstanden das Mittel des Protests gegen die britische Regierung nicht ganz, die aus Sicht der Hardliner nicht radikal und konsequent genug den Austritt aus der EU vorantreibt. Aber die Medienaufmerksamkeit war ihnen gewiss.
Der Brexit ist zum Dauerthema in der öffentlichen Debatte aufgestiegen. Da wird etwa tagelang um die Farbe des künftigen Passes gestritten, immerhin das Symbol stolzer Post-Brexit-Unabhängigkeit. Es sind solche Dinge, die mitunter die Schlagzeilen auf der Insel bestimmen, seit Premierministerin Theresa May vor genau einem Jahr Artikel 50 ausgelöst und damit den auf zwei Jahre befristeten Austrittsprozess eingeleitet hat. Es ist Halbzeit.
Während Nigel Farage toten Fisch vom Kutter kippte, stand an Land der konservative Abgeordnete und prominente Brexit-Befürworter Jacob Rees-Mogg, der bereits als nächster Premier gehandelt wird, und ließ die Reporter wissen, dass die Regierung gut daran täte, so schnell wie möglich die Kontrolle über die Fischerei zurückzugewinnen. Immerhin, je näher der Stichtag in einem Jahr rücke, desto mehr sei „die Stärke auf der Seite Großbritanniens“. Brüssel hänge verzweifelt von den Zahlungen des Königreichs ab. Die Brexit-Anhänger strotzen vor Zuversicht.
Die Stimmung auf der Insel hat sich seit dem Referendum kaum geändert. Laut Forschungsinstitut YouGov blieben die meisten ihrer Meinung treu. Wie das Parlament ist das Land tief gespalten, zerstritten, aber auch konsequent. „Der Großteil hat das Gefühl, dass das Votum der Politik ein klares Mandat gegeben hat und dass das nicht umkehrbar ist“, sagt Meinungsforscher Sir John Curtice – obwohl „Ungewissheit herrscht“, wie Politikwissenschafter Anand Menon vom Thinktank „UK in a Changing Europe“betont. Noch immer ist nicht klar, wie das künftige Verhältnis zwischen dem Königreich und der EU aussehen wird. Das habe negative Auswirkungen für Unternehmen. Hinzu komme, dass der Brexit in Nordirland „die Region destabilisiert“. Die Zukunft der Grenze zwischen dem nördlichen Landesteil und der Republik Irland hat sich zur schwierigsten Frage in den Verhandlungen entwickelt. Keine Seite wünscht eine harte Grenze. Aber wie soll das gehen, wenn das Königreich die Zollunion sowie den gemeinsamen Binnenmarkt verlässt, wie May versprochen hat? Noch steht eine Lösung aus, auch wenn dieser Punkt eigentlich in der ersten Phase der Gespräche, in der es um die Trennungsmodalitäten ging, geklärt werden sollte. Er wurde in die zweite Phase verschoben. Nun verhandeln London und Brüssel über ein Austrittsabkommen, das im Herbst 2018 beschlossen werden soll.
Bei dem Protest der Brexit-Fans auf der Themse sollte es eigentlich um die Rettung der britischen Fischindustrie gehen. Sie steht bei EU-Skeptikern seit vielen Jahren im Zentrum der Aufregung. Das Königreich hatte gehofft, direkt nach dem offiziellen Brexit am 29. März 2019 um Mitternacht die Kontrolle über die britischen Fischereigründe zu übernehmen, wo derzeit auch EUFangflotten fischen dürfen. Doch die Regierung unter Premierministerin May ist in diesem Punkt eingeknickt – wie bereits bei den Rechten der EU-Bürger und der sogenannten Austrittsrechnung von rund 42 Milliarden Euro an die EU, der London zugestimmt hat, weil es sich in Wahrheit um ausstehende Zahlungsforderungen handelt.
May hat auf Druck der Wirtschaft auch eine Übergangsfrist akzeptiert, die bis Ende 2020 dauern soll. In jener Zeit, so viel wurde schon deutlich, werden viele Dinge so laufen, wie sich Brüssel das vorstellt. Denn London zahlt weiterhin und befolgt auch weiterhin alle EU-Regeln, darf aber nicht mehr mitreden. Die Hardliner in den konservativen Parteireihen hatten dagegen einen klaren Bruch gefordert ohne Übergangsfrist, um nicht länger ein „Vasallenstaat“zu sein.
Gegen diesen Bruch kämpft Nick Clegg jeden Tag. Mehr noch: Der ehemalige Vizepremier der LiberalDemokraten will nichts anderes als den Brexit stoppen. „Gebt uns noch nicht auf“, lautet seine Botschaft an den Kontinent. Seiner Meinung nach hätten immer mehr Menschen immer mehr Zweifel. Erst jetzt würde „die Unfähigkeit“der Regierung und der Opposition von Labour offenbar, die laut Clegg von den „mittelmäßigsten Parteichefs“geführt würden, an die er sich erinnern könne. Hinzu kämen die Versprechen der Europaskeptiker, die sich nun als falsch herausstellten. Doch Clegg sitzt mittlerweile nicht mehr im Parlament, nachdem May im vergangenen Jahr Neuwahlen angesetzt hat, aus denen sie mit hauchdünner Mehrheit und stark angezählt herausgegangen ist.
Eine halbe Zugstunde von London entfernt liegt der Bezirk Havering: Er gehört zu den europaskeptischsten Gegenden im gesamten Königreich. Beim Referendum am 23. Juni 2016 stimmten 69,7 Prozent für den Austritt aus der Gemeinschaft. Der 58-jährige Dave Davies verkauft hier seit 13 Jahren Frauenmode und von Gesprächen über den anstehenden Brexit hat er längst genug. „Warum sind wir noch immer nicht draußen?“Es kann dem Briten nicht schnell genug gehen.
Eine Kundin nickt. Sie heißt Laura, will aber nicht ihren ganzen Namen nennen, weil „in Österreich bestimmt alle den Brexit verteufeln“. Auch sie hat für den Ausstieg votiert. Und auch sie hat ihre Meinung nicht geändert. Im Gegenteil: „Alles wird gut werden“, sagt sie. „Die Politik soll nur endlich vorankommen.“Man werde eben mehr Handel mit China und Indien betreiben und zu alter Stärke zurückfinden. Es ist der große Wunsch nach einem „globalen Britannien“, wie es Außenminister Boris Johnson nennt. Wenn denn nur die ProEuropäer auf der Insel etwas mehr Glauben in das Königreich hätten und das Land nicht ständig so herunterreden würden. Nur diese Haltung, schimpft Laura, bedrohe den Erfolg Großbritanniens.
„Es gibt den großen Wunsch nach einem globalen Britannien.“Boris Johnson, Außenminister