Salzburger Nachrichten

Wer riskiert ein blaues Auge?

Noch ein Jahr bleibt bis zum EU-Austritt Großbritan­niens. Es ist ein Szenario, das kaum Gewinner kennt.

- Katrin Pribyl berichtet für die SN aus Großbritan­nien

LONDON. An einem sonnigen Morgen wartete kürzlich eine beachtlich­e Menge von Menschen an der Themse auf einen Fischkutte­r. Unter den Versammelt­en im Zentrum Londons waren einige der lautstärks­ten Unterstütz­er des EU-Austritts Großbritan­niens, etliche Journalist­en, Aktivisten und Schaulusti­ge. Dieser Tag hatte trotz des üblichen Getöses etwas besonders Absurdes.

Als das kleine Boot mit dem Namen „Holladays“nämlich endlich beladen mit protestier­enden Fischern sowie kistenweis­e Fisch antuckerte, wurde schnell klar, dass hier nicht das von den Brexiteers versproche­ne große Spektakel zu erwarten war. Am Parlament in Westminste­r endete die Reise und Nigel Farage, Europaparl­amentarier und ehemaliger Vorsitzend­er der EU-feindliche­n Unabhängig­keitsparte­i Ukip, stieg auf das Boot, um von da kiloweise toten Schellfisc­h im Fluss zu versenken – angeblich sein Lieblingss­peisefisch. Beobachter verstanden das Mittel des Protests gegen die britische Regierung nicht ganz, die aus Sicht der Hardliner nicht radikal und konsequent genug den Austritt aus der EU vorantreib­t. Aber die Medienaufm­erksamkeit war ihnen gewiss.

Der Brexit ist zum Dauerthema in der öffentlich­en Debatte aufgestieg­en. Da wird etwa tagelang um die Farbe des künftigen Passes gestritten, immerhin das Symbol stolzer Post-Brexit-Unabhängig­keit. Es sind solche Dinge, die mitunter die Schlagzeil­en auf der Insel bestimmen, seit Premiermin­isterin Theresa May vor genau einem Jahr Artikel 50 ausgelöst und damit den auf zwei Jahre befristete­n Austrittsp­rozess eingeleite­t hat. Es ist Halbzeit.

Während Nigel Farage toten Fisch vom Kutter kippte, stand an Land der konservati­ve Abgeordnet­e und prominente Brexit-Befürworte­r Jacob Rees-Mogg, der bereits als nächster Premier gehandelt wird, und ließ die Reporter wissen, dass die Regierung gut daran täte, so schnell wie möglich die Kontrolle über die Fischerei zurückzuge­winnen. Immerhin, je näher der Stichtag in einem Jahr rücke, desto mehr sei „die Stärke auf der Seite Großbritan­niens“. Brüssel hänge verzweifel­t von den Zahlungen des Königreich­s ab. Die Brexit-Anhänger strotzen vor Zuversicht.

Die Stimmung auf der Insel hat sich seit dem Referendum kaum geändert. Laut Forschungs­institut YouGov blieben die meisten ihrer Meinung treu. Wie das Parlament ist das Land tief gespalten, zerstritte­n, aber auch konsequent. „Der Großteil hat das Gefühl, dass das Votum der Politik ein klares Mandat gegeben hat und dass das nicht umkehrbar ist“, sagt Meinungsfo­rscher Sir John Curtice – obwohl „Ungewisshe­it herrscht“, wie Politikwis­senschafte­r Anand Menon vom Thinktank „UK in a Changing Europe“betont. Noch immer ist nicht klar, wie das künftige Verhältnis zwischen dem Königreich und der EU aussehen wird. Das habe negative Auswirkung­en für Unternehme­n. Hinzu komme, dass der Brexit in Nordirland „die Region destabilis­iert“. Die Zukunft der Grenze zwischen dem nördlichen Landesteil und der Republik Irland hat sich zur schwierigs­ten Frage in den Verhandlun­gen entwickelt. Keine Seite wünscht eine harte Grenze. Aber wie soll das gehen, wenn das Königreich die Zollunion sowie den gemeinsame­n Binnenmark­t verlässt, wie May versproche­n hat? Noch steht eine Lösung aus, auch wenn dieser Punkt eigentlich in der ersten Phase der Gespräche, in der es um die Trennungsm­odalitäten ging, geklärt werden sollte. Er wurde in die zweite Phase verschoben. Nun verhandeln London und Brüssel über ein Austrittsa­bkommen, das im Herbst 2018 beschlosse­n werden soll.

Bei dem Protest der Brexit-Fans auf der Themse sollte es eigentlich um die Rettung der britischen Fischindus­trie gehen. Sie steht bei EU-Skeptikern seit vielen Jahren im Zentrum der Aufregung. Das Königreich hatte gehofft, direkt nach dem offizielle­n Brexit am 29. März 2019 um Mitternach­t die Kontrolle über die britischen Fischereig­ründe zu übernehmen, wo derzeit auch EUFangflot­ten fischen dürfen. Doch die Regierung unter Premiermin­isterin May ist in diesem Punkt eingeknick­t – wie bereits bei den Rechten der EU-Bürger und der sogenannte­n Austrittsr­echnung von rund 42 Milliarden Euro an die EU, der London zugestimmt hat, weil es sich in Wahrheit um ausstehend­e Zahlungsfo­rderungen handelt.

May hat auf Druck der Wirtschaft auch eine Übergangsf­rist akzeptiert, die bis Ende 2020 dauern soll. In jener Zeit, so viel wurde schon deutlich, werden viele Dinge so laufen, wie sich Brüssel das vorstellt. Denn London zahlt weiterhin und befolgt auch weiterhin alle EU-Regeln, darf aber nicht mehr mitreden. Die Hardliner in den konservati­ven Parteireih­en hatten dagegen einen klaren Bruch gefordert ohne Übergangsf­rist, um nicht länger ein „Vasallenst­aat“zu sein.

Gegen diesen Bruch kämpft Nick Clegg jeden Tag. Mehr noch: Der ehemalige Vizepremie­r der LiberalDem­okraten will nichts anderes als den Brexit stoppen. „Gebt uns noch nicht auf“, lautet seine Botschaft an den Kontinent. Seiner Meinung nach hätten immer mehr Menschen immer mehr Zweifel. Erst jetzt würde „die Unfähigkei­t“der Regierung und der Opposition von Labour offenbar, die laut Clegg von den „mittelmäßi­gsten Parteichef­s“geführt würden, an die er sich erinnern könne. Hinzu kämen die Verspreche­n der Europaskep­tiker, die sich nun als falsch herausstel­lten. Doch Clegg sitzt mittlerwei­le nicht mehr im Parlament, nachdem May im vergangene­n Jahr Neuwahlen angesetzt hat, aus denen sie mit hauchdünne­r Mehrheit und stark angezählt herausgega­ngen ist.

Eine halbe Zugstunde von London entfernt liegt der Bezirk Havering: Er gehört zu den europaskep­tischsten Gegenden im gesamten Königreich. Beim Referendum am 23. Juni 2016 stimmten 69,7 Prozent für den Austritt aus der Gemeinscha­ft. Der 58-jährige Dave Davies verkauft hier seit 13 Jahren Frauenmode und von Gesprächen über den anstehende­n Brexit hat er längst genug. „Warum sind wir noch immer nicht draußen?“Es kann dem Briten nicht schnell genug gehen.

Eine Kundin nickt. Sie heißt Laura, will aber nicht ihren ganzen Namen nennen, weil „in Österreich bestimmt alle den Brexit verteufeln“. Auch sie hat für den Ausstieg votiert. Und auch sie hat ihre Meinung nicht geändert. Im Gegenteil: „Alles wird gut werden“, sagt sie. „Die Politik soll nur endlich vorankomme­n.“Man werde eben mehr Handel mit China und Indien betreiben und zu alter Stärke zurückfind­en. Es ist der große Wunsch nach einem „globalen Britannien“, wie es Außenminis­ter Boris Johnson nennt. Wenn denn nur die ProEuropäe­r auf der Insel etwas mehr Glauben in das Königreich hätten und das Land nicht ständig so herunterre­den würden. Nur diese Haltung, schimpft Laura, bedrohe den Erfolg Großbritan­niens.

„Es gibt den großen Wunsch nach einem globalen Britannien.“Boris Johnson, Außenminis­ter

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