Erst im Rückblick wirkt ein Leben schlüssig
Paul Auster schreibt Plädoyers für das Rätselhafte: Sein legendäres „Rotes Notizbuch“erscheint nun erstmals in vollständiger Fassung.
Jedes Leben könnte immer auch ganz anders verlaufen. Wie lassen sich die Faktoren benennen, die eine Biografie am Ende so und nicht anders aussehen lassen, was geschieht, dass sich aus möglichen Lebenswegen ein einziger Lebensweg herausbildet?
Das ist das Grundthema des amerikanischen Schriftstellers Paul Auster, wie ein Individuum entsteht aufgrund ausgeschlagener und wahrgenommener Chancen, sodass aus der Vielfalt von Möglichkeiten eine geschlossene Persönlichkeit von eigenem Wesen wird.
Im Rückblick sieht eine Biografie recht schlüssig aus, eins ergibt sich aus dem anderen, und ein abgeklärter Charakter mag darin sogar eine Art von innerer Notwendigkeit erkennen. Das lässt sich, wenn alles gelaufen ist, im Nachhinein leicht behaupten. Paul Auster aber beschäftigt die Frage, was aus einem geworden wäre, wenn sich nicht die eine, sondern die andere Bedingung in der Entwicklung eines Menschen durchgesetzt hätte.
In seinem letzten großen Roman „4321“spielt er das durch. Am Beispiel von Archie führt er vor, welch ungeheure, aber unterschätzte Rolle dem Zufall zukommt. Der schlägt unvermutet zu, er unterläuft jede Lebensplanung, kommt aus heiterem Himmel und verändert den Verlauf eines Lebens gravierend.
Jetzt ist das legendäre „Rote Notizbuch“von Paul Auster, ein Grundbuch seines Denkens, in einer erweiterten Fassung erschienen: Erstmals sind alle 25 Erzählungen in deutscher Übersetzung erschienen. In seinem Notizbuch hat Auster Fälle festgehalten, die er selbst erlebt hat oder die ihm aus dem engeren Familien- und Freundeskreis zugetragen wurden. In ihnen wird das Unwahrscheinliche Wirklichkeit. Der Zufall mischt sich ein, und das Leben ist plötzlich ein anderes geworden.
Ein Schlüsselerlebnis, das auch ins Romanwerk Eingang gefunden hat, hat den jugendlichen Paul Auster erschüttert. Er hielt sich als Vierzehnjähriger in einem Ferienlager auf, als sich ein Trupp in die Wälder aufmachte. Dort wurden die Abenteurer von einem Gewitter überrascht. Sie arbeiteten sich unter einem Stacheldrahtzaun durch auf eine Lichtung. Der Bub unmittelbar vor dem jungen Paul wurde von einem Blitz getroffen und verstarb. Es hätte auch Auster treffen können. Nennen wir es Zufall, Schicksal oder Glück, dass er am Leben ist.
Das schmale Buch ist voll von solchen unerwarteten Episoden, die keiner Logik gehorchen. Würden sie nicht der verborgenen Dramaturgie des Lebens folgen, müsste man sie als konstruiert und unglaubwürdig abtun.
So ist das nicht nur ein Buch denkwürdiger Geschichten, sondern auch eine Poetik des Paul Auster in Erzählform. Mit diesem Band erbringt er den Nachweis, dass ein Leben nicht kalkulierbar ist und sich Literatur deshalb nicht an Plausibilität als oberstes Kriterium zu halten hat. Der Einzelne mag sich abkämpfen und Ziele verfolgen, aber wo er ankommen wird, lässt sich nicht entscheiden. Deshalb verfasst er dieses Plädoyer für das Unerklärliche, Rätselhafte, was sich vernünftigen Erklärungen entzieht. Aufgeschriebene Biografien wirken ja deshalb so gut nachvollziehbar, weil sie sich am Strang des Abgeschlossenen entlang bewegen. Auster aber denkt mögliche Leben mit, die nie stattgefunden haben, aber doch in Greifnähe der Wahrscheinlichkeit liegen. Er nimmt dem Einzelnen einen großen Teil des Gestaltungsspielraums, weil er ihn in ein Nest von Bedingungen setzt. Das Leben wird von außen bestimmt, selbst bleibt einem nur die Chance, auf Einflüsse zu reagieren. Damit macht sich Auster zu einem Skeptiker menschlicher Selbstbestimmung. Die gibt es nur eingeschränkt und mit begrenzter Wirkung. Für Allmachtsfantasien bleibt hier kein Platz. Buch: