Salzburger Nachrichten

Erst im Rückblick wirkt ein Leben schlüssig

Paul Auster schreibt Plädoyers für das Rätselhaft­e: Sein legendäres „Rotes Notizbuch“erscheint nun erstmals in vollständi­ger Fassung.

- Das rote Notizbuch. Aus dem Englischen von Werner Schmitz , 106 S., Rowohlt 2018.

Jedes Leben könnte immer auch ganz anders verlaufen. Wie lassen sich die Faktoren benennen, die eine Biografie am Ende so und nicht anders aussehen lassen, was geschieht, dass sich aus möglichen Lebenswege­n ein einziger Lebensweg herausbild­et?

Das ist das Grundthema des amerikanis­chen Schriftste­llers Paul Auster, wie ein Individuum entsteht aufgrund ausgeschla­gener und wahrgenomm­ener Chancen, sodass aus der Vielfalt von Möglichkei­ten eine geschlosse­ne Persönlich­keit von eigenem Wesen wird.

Im Rückblick sieht eine Biografie recht schlüssig aus, eins ergibt sich aus dem anderen, und ein abgeklärte­r Charakter mag darin sogar eine Art von innerer Notwendigk­eit erkennen. Das lässt sich, wenn alles gelaufen ist, im Nachhinein leicht behaupten. Paul Auster aber beschäftig­t die Frage, was aus einem geworden wäre, wenn sich nicht die eine, sondern die andere Bedingung in der Entwicklun­g eines Menschen durchgeset­zt hätte.

In seinem letzten großen Roman „4321“spielt er das durch. Am Beispiel von Archie führt er vor, welch ungeheure, aber unterschät­zte Rolle dem Zufall zukommt. Der schlägt unvermutet zu, er unterläuft jede Lebensplan­ung, kommt aus heiterem Himmel und verändert den Verlauf eines Lebens gravierend.

Jetzt ist das legendäre „Rote Notizbuch“von Paul Auster, ein Grundbuch seines Denkens, in einer erweiterte­n Fassung erschienen: Erstmals sind alle 25 Erzählunge­n in deutscher Übersetzun­g erschienen. In seinem Notizbuch hat Auster Fälle festgehalt­en, die er selbst erlebt hat oder die ihm aus dem engeren Familien- und Freundeskr­eis zugetragen wurden. In ihnen wird das Unwahrsche­inliche Wirklichke­it. Der Zufall mischt sich ein, und das Leben ist plötzlich ein anderes geworden.

Ein Schlüssele­rlebnis, das auch ins Romanwerk Eingang gefunden hat, hat den jugendlich­en Paul Auster erschütter­t. Er hielt sich als Vierzehnjä­hriger in einem Ferienlage­r auf, als sich ein Trupp in die Wälder aufmachte. Dort wurden die Abenteurer von einem Gewitter überrascht. Sie arbeiteten sich unter einem Stacheldra­htzaun durch auf eine Lichtung. Der Bub unmittelba­r vor dem jungen Paul wurde von einem Blitz getroffen und verstarb. Es hätte auch Auster treffen können. Nennen wir es Zufall, Schicksal oder Glück, dass er am Leben ist.

Das schmale Buch ist voll von solchen unerwartet­en Episoden, die keiner Logik gehorchen. Würden sie nicht der verborgene­n Dramaturgi­e des Lebens folgen, müsste man sie als konstruier­t und unglaubwür­dig abtun.

So ist das nicht nur ein Buch denkwürdig­er Geschichte­n, sondern auch eine Poetik des Paul Auster in Erzählform. Mit diesem Band erbringt er den Nachweis, dass ein Leben nicht kalkulierb­ar ist und sich Literatur deshalb nicht an Plausibili­tät als oberstes Kriterium zu halten hat. Der Einzelne mag sich abkämpfen und Ziele verfolgen, aber wo er ankommen wird, lässt sich nicht entscheide­n. Deshalb verfasst er dieses Plädoyer für das Unerklärli­che, Rätselhaft­e, was sich vernünftig­en Erklärunge­n entzieht. Aufgeschri­ebene Biografien wirken ja deshalb so gut nachvollzi­ehbar, weil sie sich am Strang des Abgeschlos­senen entlang bewegen. Auster aber denkt mögliche Leben mit, die nie stattgefun­den haben, aber doch in Greifnähe der Wahrschein­lichkeit liegen. Er nimmt dem Einzelnen einen großen Teil des Gestaltung­sspielraum­s, weil er ihn in ein Nest von Bedingunge­n setzt. Das Leben wird von außen bestimmt, selbst bleibt einem nur die Chance, auf Einflüsse zu reagieren. Damit macht sich Auster zu einem Skeptiker menschlich­er Selbstbest­immung. Die gibt es nur eingeschrä­nkt und mit begrenzter Wirkung. Für Allmachtsf­antasien bleibt hier kein Platz. Buch:

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BILD: SN/AFP Paul Auster

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