„Verbrecherische Fahrlässigkeit“
Bei der Brandkatastrophe in Kemerowo starben 41 Kinder. Tausende Einwohner gingen auf die Straße. Auch Präsident Putin flog ein. Die Empörung der Demonstranten minderte das kaum.
Im vierten Stockwerk war der Rauch so dicht, dass Alexander Lillewjali nur kriechen konnte. „Ich hatte so viel Kohlenmonoxid eingeatmet, dass ich fast das Bewusstsein verlor. Meine Tochter rief immer wieder an. Ich schrie in den Hörer, sie solle versuchen, aus dem Saal zu kommen.“Es klingt, als erzähle Lillewjali einen Albtraum. Seine drei Töchter kamen im Einkaufszentrum Winterkirsche um.
Draußen auf der Straße standen Feuerwehrleute, Lillewjali sagte ihnen, im Kino seien Kinder, man müsse sie retten. Die Katastrophenschützer willigten ein und brauchten volle drei Minuten, um Gasmasken anzuziehen. „Ich zeigte ihnen die Treppe, auf der man am schnellsten zum Kino kam, aber dann sagte jemand, die Zentraltreppe brenne. Verflucht, sie sind hinter ihm hergelaufen. Ich bat sie, mir eine Gasmaske zu geben, um die Kinder selbst zu holen. Sie antworteten, das sei nicht erlaubt, sie hätten Vorschriften. Meine Mädels blieben drinnen und verbrannten wegen der verteufelten Vorschriften.“
Die Feuerkatastrophe im Einkaufsund Vergnügungszentrum Winterkirsche beherrschte die ostsibirische Stadt Kemerowo auch am Dienstag. In dem brennenden Gebäude waren am Sonntag nicht weniger als 64 Menschen ums Leben gekommen, davon mindestens 41 Kinder. Vor der Regionalverwaltung versammelten sich mehrere Tausend Menschen. Sie forderten den Rücktritt des Gouverneurs Aman Tulejew und das Erscheinen Wladimir Putins. Der russische Präsident war in der Früh nach Kemerowo geflogen, wo er die mit Blumen und Stofftieren überhäufte Gedenkstätte vor dem ausgebrannten Einkaufszentrum besuchte, im Leichenschauhaus mit mehreren Bürgern zusammentraf und eine Sitzung zur Beseitigung der Brandfolgen leitete. „Wir reden über Demografie und verlieren so viele Menschen, warum?“, räsonierte der Staatschef. „Wegen verbrecherischer Fahrlässigkeit und Schlamperei.“Putin ließ durchblicken, das Einkaufszentrum-Management habe sich mithilfe korrupter Beamter vor Brandschutzkontrollen gedrückt: „Ohne Geld gibt es keine Bescheinigung, für Geld unterschreiben sie alles, was man will.“
Putin flog davon, ohne vor der Menge aufzutreten. Auch Gouverneur Tulejew, der sich bei Putin für das Geschehene entschuldigt hatte, ließ sich nicht blicken. Dafür ging Vizegouverneur Sergej Ziviljew vor den Demonstranten auf die Knie und bat um Verzeihung.
Zuvor hatten immer neue Einzelheiten des Unglücks die Öffentlichkeit empört. So sagte Rinat Jenikejew, Brandschutzaufsichtschef des Ministeriums für Katastrophenschutz, der Agentur Tass, das Einkaufszentrum sei 2013 ohne die nötige Genehmigung eröffnet worden. 2016 sei die AG Winterkirsche einer Brandschutzprüfung entgangen, weil sie als „Kleinbetrieb“von solchen Inspektionen befreit war. Obwohl in dem Gebäude ein Kino mit über 540 Sitzplätzen, ein SpielZentrum, eine Tanzschule, eine Trampolinanlage und zahlreiche Geschäfte sowie Restaurants in Betrieb waren.
Eine Sprenkleranlage fehlte, das Alarmsystem funktionierte nicht. Erst hieß es, ein Wachmann habe sie ausgeschaltet, dann, sie sei seit dem 19. März defekt gewesen. Außerdem hatte man vor dem Unglück die Türen von zwei Kinosälen verschlossen, offenbar, damit sich niemand ohne Eintrittskarte hineinschleichen konnte. Auch Notausgänge waren nach Angaben des russischen Ermittlungskomitees abgesperrt. Die Winterkirsche entpuppte sich als tödliche Falle.
Die Kundgebung in Kemerowo dauerte am Dienstag neun Stunden. Die Demonstranten verdächtigten die Behörden vor allem, diese würden die wahren Opferzahlen unterdrücken, einige sprachen von mehr als 300 Toten. „Nach meiner Erfahrung ist das wohl nicht der Fall“, sagt die Moskauer Politikwissenschafterin Jekaterina Schulmann. „Aber der Verdacht zeigt, wie niedrig das Vertrauen der Öffentlichkeit in die Staatsmacht ist.“
Nachdem mehrere Regionen und Städte aus Solidarität mit Kemerowo Trauertage ausgerufen hatten, erklärte auch Präsident Putin für heute, Mittwoch, Staatstrauer.