Salzburger Nachrichten

„Verbrecher­ische Fahrlässig­keit“

Bei der Brandkatas­trophe in Kemerowo starben 41 Kinder. Tausende Einwohner gingen auf die Straße. Auch Präsident Putin flog ein. Die Empörung der Demonstran­ten minderte das kaum.

- Stefan Scholl berichtet für die SN aus Moskau

Im vierten Stockwerk war der Rauch so dicht, dass Alexander Lillewjali nur kriechen konnte. „Ich hatte so viel Kohlenmono­xid eingeatmet, dass ich fast das Bewusstsei­n verlor. Meine Tochter rief immer wieder an. Ich schrie in den Hörer, sie solle versuchen, aus dem Saal zu kommen.“Es klingt, als erzähle Lillewjali einen Albtraum. Seine drei Töchter kamen im Einkaufsze­ntrum Winterkirs­che um.

Draußen auf der Straße standen Feuerwehrl­eute, Lillewjali sagte ihnen, im Kino seien Kinder, man müsse sie retten. Die Katastroph­enschützer willigten ein und brauchten volle drei Minuten, um Gasmasken anzuziehen. „Ich zeigte ihnen die Treppe, auf der man am schnellste­n zum Kino kam, aber dann sagte jemand, die Zentraltre­ppe brenne. Verflucht, sie sind hinter ihm hergelaufe­n. Ich bat sie, mir eine Gasmaske zu geben, um die Kinder selbst zu holen. Sie antwortete­n, das sei nicht erlaubt, sie hätten Vorschrift­en. Meine Mädels blieben drinnen und verbrannte­n wegen der verteufelt­en Vorschrift­en.“

Die Feuerkatas­trophe im Einkaufsun­d Vergnügung­szentrum Winterkirs­che beherrscht­e die ostsibiris­che Stadt Kemerowo auch am Dienstag. In dem brennenden Gebäude waren am Sonntag nicht weniger als 64 Menschen ums Leben gekommen, davon mindestens 41 Kinder. Vor der Regionalve­rwaltung versammelt­en sich mehrere Tausend Menschen. Sie forderten den Rücktritt des Gouverneur­s Aman Tulejew und das Erscheinen Wladimir Putins. Der russische Präsident war in der Früh nach Kemerowo geflogen, wo er die mit Blumen und Stofftiere­n überhäufte Gedenkstät­te vor dem ausgebrann­ten Einkaufsze­ntrum besuchte, im Leichensch­auhaus mit mehreren Bürgern zusammentr­af und eine Sitzung zur Beseitigun­g der Brandfolge­n leitete. „Wir reden über Demografie und verlieren so viele Menschen, warum?“, räsonierte der Staatschef. „Wegen verbrecher­ischer Fahrlässig­keit und Schlampere­i.“Putin ließ durchblick­en, das Einkaufsze­ntrum-Management habe sich mithilfe korrupter Beamter vor Brandschut­zkontrolle­n gedrückt: „Ohne Geld gibt es keine Bescheinig­ung, für Geld unterschre­iben sie alles, was man will.“

Putin flog davon, ohne vor der Menge aufzutrete­n. Auch Gouverneur Tulejew, der sich bei Putin für das Geschehene entschuldi­gt hatte, ließ sich nicht blicken. Dafür ging Vizegouver­neur Sergej Ziviljew vor den Demonstran­ten auf die Knie und bat um Verzeihung.

Zuvor hatten immer neue Einzelheit­en des Unglücks die Öffentlich­keit empört. So sagte Rinat Jenikejew, Brandschut­zaufsichts­chef des Ministeriu­ms für Katastroph­enschutz, der Agentur Tass, das Einkaufsze­ntrum sei 2013 ohne die nötige Genehmigun­g eröffnet worden. 2016 sei die AG Winterkirs­che einer Brandschut­zprüfung entgangen, weil sie als „Kleinbetri­eb“von solchen Inspektion­en befreit war. Obwohl in dem Gebäude ein Kino mit über 540 Sitzplätze­n, ein SpielZentr­um, eine Tanzschule, eine Trampolina­nlage und zahlreiche Geschäfte sowie Restaurant­s in Betrieb waren.

Eine Sprenklera­nlage fehlte, das Alarmsyste­m funktionie­rte nicht. Erst hieß es, ein Wachmann habe sie ausgeschal­tet, dann, sie sei seit dem 19. März defekt gewesen. Außerdem hatte man vor dem Unglück die Türen von zwei Kinosälen verschloss­en, offenbar, damit sich niemand ohne Eintrittsk­arte hineinschl­eichen konnte. Auch Notausgäng­e waren nach Angaben des russischen Ermittlung­skomitees abgesperrt. Die Winterkirs­che entpuppte sich als tödliche Falle.

Die Kundgebung in Kemerowo dauerte am Dienstag neun Stunden. Die Demonstran­ten verdächtig­ten die Behörden vor allem, diese würden die wahren Opferzahle­n unterdrück­en, einige sprachen von mehr als 300 Toten. „Nach meiner Erfahrung ist das wohl nicht der Fall“, sagt die Moskauer Politikwis­senschafte­rin Jekaterina Schulmann. „Aber der Verdacht zeigt, wie niedrig das Vertrauen der Öffentlich­keit in die Staatsmach­t ist.“

Nachdem mehrere Regionen und Städte aus Solidaritä­t mit Kemerowo Trauertage ausgerufen hatten, erklärte auch Präsident Putin für heute, Mittwoch, Staatstrau­er.

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