Das Verbindende über das Trennende stellen
Die Spaltung der Gesellschaft nach der Bundespräsidentenwahl ist noch nicht überwunden. Im Gegenteil.
Spätestens seit der komplizierten Wahl des Bundespräsidenten (April bis Dezember 2016) ist von einer Spaltung der österreichischen Gesellschaft die Rede. Das Land habe sich in zwei Lager geteilt, urteilen Soziologen und Politikwissenschafter, das linksliberale des Alexander Van der Bellen, das rechtskonservative des Norbert Hofer. Sie sprechen in diesem Zusammenhang auch von Arm gegen Reich, von oben gegen unten oder von vorn gegen hinten.
Gemeint ist immer dasselbe: Es kämpfen diejenigen, denen es besser geht, gegen diejenigen, denen es weniger gut geht. Oder noch präziser: Diejenigen, die das Gefühl haben, dass es das Leben gut mit ihnen meint, sind mit denjenigen übers Kreuz, die davon überzeugt sind, dass sie vom Zug zum Glück abgehängt worden sind.
Die Nationalratswahl hat diese Kluft nicht zugeschüttet, sondern verbreitert. Dabei tut die Regierung Kurz-Strache das, was sie vor der Wahl angekündigt hat: das Land nach rechtskonservativen Kriterien neu ausrichten. Die Aufregung darüber ist groß und überrascht. Offenbar ist es bei uns nicht üblich, dass Politiker nach der Wahl umsetzen, was sie vorher sagen. In der rot-schwarzen Vergangenheit ist nichts so heiß gegessen worden, wie es gekocht worden war. Und spätestens in den Mühlen der Sozialpartnerschaft sind dann alle Ecken und Kanten abgeschliffen worden. Das gilt nicht mehr.
Die anderen Parteien und Teile der Zivilgesellschaft suchen nach wie vor ihre Rolle zwischen Opposition und Widerstand. Der Protest gegen die Regierung hat sich von der Straße in die Leserbriefspalten der Zeitungen und auf Social-Media-Plattformen verlagert. Dort stehen die Lager einander unversöhnlicher denn je gegenüber. Die Sprache ist hart geworden. Manchmal blitzt sogar Hetzerisches auf. Das Trennende steht über dem Verbindenden.
Regierung und Opposition arbeiten derzeit nach dem Prinzip: Wer nicht für uns ist, ist gegen uns. Das mag für die Unterscheidbarkeit der politischen Ideen hilfreich sein, für das Zusammenleben der Gesellschaft ist es das nicht. Österreich braucht bei aller Unterschiedlichkeit der Ansichten auch verbindende Projekte, die von möglichst allen getragen werden. Die bevorstehende EU-Präsidentschaft ist eines davon. Die Neutralität ein anderes. In einer Zeit des aufkeimenden Kalten Krieges ist die unabhängige Rolle Österreichs gefragter denn je. Dazu braucht es Geschlossenheit. Die ist nur erreichbar, wenn das Verbindende über dem Trennenden steht.