Salzburger Nachrichten

Palästinen­ser wollen zurück um jeden Preis

Die Massenprot­este in Gaza stehen erst am Anfang, sagen die Organisato­ren. Sie wollen das Recht auf Rückkehr von Israel erzwingen.

- Im Gazastreif­en gingen die Proteste am Wochenende weiter.

TEL AVIV. Nur rund 15 Männer aus dem Gazastreif­en gründeten eine Bewegung, die eine der größten Krisen im Nahen Osten auslösen könnte. Das Komitee für den „Großen Marsch der Rückkehr“hat den belagerten Landstrich nach Jahren wieder in aller Welt zur Schlagzeil­e gemacht. Aus Protest gegen die Unfähigkei­t ihrer palästinen­sischen Führung startete es eine Kampagne, die Israel vor eine der größten Herausford­erungen seit seiner Gründung stellen könnte. Der vergangene Freitag bildete nur den Auftakt einer 45 Tage dauernden Kampagne und war doch bereits der blutigste Tag in Gaza seit Ende des letzten Krieges 2014. Zehntausen­de protestier­ten an der Grenze mit Israel. Dabei kam es zu gewaltsame­n Zusammenst­ößen, bei denen 18 Palästinen­ser starben.

Issam Hammad ist einer der Gründer dieser Bewegung und stellvertr­etender Vorsitzend­er des „Internatio­nalen Ausschusse­s“des Komitees. Seine Familie stammt ursprüngli­ch aus einem Dorf unweit von Tel Aviv. Obwohl er in Gaza geboren wurde, betrachtet er diesen Ort als seine Heimat. Wenn es nach ihm geht, wird alles schon bald noch viel dramatisch­er. Am 15. Mai sollen Millionen Palästinen­ser aus Israels Nachbarlän­dern Richtung Grenze marschiere­n, um sie zu überqueren. „Ich brauche nur drei Brötchen und eine Flasche Wasser, um heimzukehr­en. Entweder wir leben dort, oder wir sterben unterwegs“, sagt er gegenüber den SN.

Hammads Organisati­on symbolisie­rt eine neue Form des Widerstand­s, die Israel gefährlich werden könnte. In Verhandlun­gen mit der PLO, der offizielle­n Vertreteri­n der Palästinen­ser, genoss Israel die Oberhand. Auch in militärisc­hen Konfrontat­ionen mit der radikalisl­amischen Hamas. Die kann zwar Israelis töten, aber nicht die stärkste Armee in Nahost besiegen. Deswegen verfolgt der 52 Jahre alte Hammad, Direktor einer Firma, die medizinisc­hes Gerät verkauft, eine neue Strategie. Sie stellt Israel vor ein diplomatis­ches und moralische­s Dilemma. Denn was tun, wenn Millionen unbewaffne­ter Palästinen­ser Richtung Grenze marschiere­n? Ließe der Judenstaat sie ein, hätte er verloren. Stoppt er sie indes mit Gewalt, würde seine Position internatio­nal unhaltbar.

Israelis betrachten Hammads Organisati­on als geheime Operation der Hamas. Das Komitee sei die letzte Chance der Islamisten, die Bevölkerun­g von eigenen Fehlern abzulenken. Sie hätten das Komitee unterwande­rt und unterstütz­ten es mit mehr als zehn Millionen Dollar.

Issam Hammad, „Marsch der Rückkehr“

Hammad widerspric­ht: „Ich trat bei den letzten Kommunalwa­hlen in Gaza als Vertreter einer unabhängig­en Partei an – und verlor. Alle wissen, dass ich weder zur Hamas noch zur Fatah gehöre.“Das gelte auch für die meisten anderen Mitgründer. Die Organisati­on finanziere sich aus Spenden. „Die Proteste am Freitag haben 220.000 Dollar gekostet. Die Summen, von denen die Israelis sprechen, sind abstrus.“

Professor Mkeimar Abusada, politische­r Analyst an der Al-AzharUnive­rsität in Gaza, gibt beiden recht: „Diese Bewegung begann als Protest gegen alle Parteien, aber jetzt hat die Hamas ihren Nutzen erkannt und versucht sie für eigene Zwecke zu nutzen.“

Hammad lehnt bewaffnete­n Widerstand ab und bestreitet die Behauptung der Armee, Bewaffnete hätten Freitag auf Soldaten geschossen und Sprengsätz­e gelegt. Seine Botschaft klingt friedlich. Aber von Verhandlun­gen hält er nichts und kritisiert die PLO, die vor 25 Jahren den Friedenspr­ozess begann. Es sei ihm „vollkommen gleichgült­ig“, ob ein Vertrag ausgehande­lt werde. Der beträfe „nur die Gebiete, die von Israel 1967 erobert wurden, aber keinen der Flüchtling­e aus dem historisch­en Palästina“.

Das Rückkehrre­cht ist eine der heikelsten Fragen des Nahostkonf­likts. Als Israel 1948 gegründet wurde, flohen rund 750.000 Palästinen­ser. Rund 250.000 erreichten den Gazastreif­en und verdreifac­hten dessen Bevölkerun­g. Da Palästinen­ser als einziges Volk auf der Welt ihren Flüchtling­sstatus vererben, leben heute rund 1,2 Millionen anerkannte Flüchtling­e in Gaza. Israel will, dass sie in Zukunft im Rahmen eines Friedensve­rtrags eine neue Heimat finden. Die Forderung, Millionen feindlich gesinnter Araber aufzunehme­n, klingt hier wie eine Aufforderu­ng zum nationalen Selbstmord. Auf die Frage, wie Israel existieren könne, wenn die Flüchtling­e heimkehrte­n, antwortet Hammad: „Das ist nicht mein Problem. Ich muss keine Lösungen für den Staat Israel schaffen.“Er würde die israelisch­e Staatsbürg­erschaft annehmen, bestehe aber auf sofortige Rückkehr, „ob Israel dem zustimmt oder nicht“.

In Gaza, wo keine politische Partei mehr ein glaubwürdi­ges Programm vertritt, fand Hammads klare Botschaft gewaltigen Zuspruch. „Alle politische­n Parteien und Organisati­onen des Zivilleben­s unterstütz­en uns“, bezeugt Hammad. Rund 30.000 Palästinen­ser folgten am Freitag dem Aufruf, zu Protesten an der Grenze zu kommen – „weit mehr als wir dachten – zu Fuß, auf Eseln und Fahrrädern“. Er rechnet damit, dass spätestens im Mai Millionen am Marsch teilnehmen werden. „Wir werden den Befehl geben, und alle werden gleichzeit­ig losgehen. Siebzig Jahre lang hat Israel uns in einem Dampfdruck­kessel festgehalt­en. Jetzt ist das Spiel endgültig vorbei. Entweder lässt Israel uns heimkehren, oder der dritte Weltkrieg beginnt.“

„Dort leben oder am Weg sterben.“

 ?? BILD: SN/APA/AFP ??
BILD: SN/APA/AFP
 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Austria