Was Christen vom Islam lernen können
Durch islamistische Terroristen ist der Islam vielfach in die Kritik geraten. Andererseits sind Menschen im Westen fasziniert, wie ernsthaft viele Muslime ihren Glauben leben. Was läuft schief im Islam und was ist vorbildlich?
Die Philosophin und Theologin Melanie Wolfers setzt sich für ein besseres Zusammenleben von Christen und Muslimen ein – und wirft im SN-Gespräch einen wohlwollend kritischen Blick auf den Islam. SN: Was imponiert Ihnen ganz allgemein am Islam? Wolfers: Mich beeindruckt, dass für viele Muslime der Glaube an Gott im Mittelpunkt ihres Lebens steht. Die Existenz Gottes ist für sie so selbstverständlich wie die Luft, die wir atmen. Auch spricht mich an, wie stark sie versuchen, ihr alltägliches Leben aus ihrem Glauben heraus zu gestalten. Konkret setzen Muslime dies etwa um in der Treue zum Gebet, im Fasten, im Beachten verschiedener Reinheitsgebote. Und auch in der Sorge um die Armen ihrer Glaubensgemeinschaft. SN: Wenn Sie christlichen Religionsunterricht geben würden – wo würden Sie sagen: Kinder, das und das könnt ihr euch vom Islam abschauen! Ich selbst bin in einer nicht christlichen Gegend aufgewachsen. Da konnte es schon einmal passieren, dass jemand zu mir gesagt hat: „Ach, du glaubst an Gott und gehst in die Kirche? Also, ich spiele Fußball und habe auch so manches Turnier am Sonntagmorgen.“
In der Begegnung mit Muslimen können Kinder erleben, dass der Glaube unser ganzes Leben prägen will. Die Weise, wie Muslime sich untereinander verbunden fühlen, regt an, die christliche Botschaft ernst zu nehmen: Alle Menschen sind Schwestern und Brüder. Dies wird konkret, indem ich schwächeren Mitschülerinnen helfe oder Menschen anderer Kulturen und Religionen mit Respekt begegne. SN: Muslime haben klare fünf Säulen, z. B. das strenge Fasten. Ist das hilfreich für den Glauben oder verstellt es die Sicht auf das, was „glauben“ausmacht? Menschen brauchen Bräuche und Regeln. Nur so bleibt die innere Einstellung kein bloßer Gedanke, sondern wird konkret. Keine Gemeinschaft kommt ohne regelmäßige Kontakte oder Treffen aus. Das gilt auch für unsere Gottesbeziehung.
Andererseits wissen wir aus der Geschichte der katholischen Kirche: Strenge Vorschriften etwa zum Fasten oder für den Gottesdienstbesuch können dazu führen, dass sie zwar äußerlich eingehalten, aber innerlich nicht mitgetragen werden. Und wenn Regeln gar den Eindruck vermittelten, man könne oder müsse sich die göttliche Liebe durch das Einhalten von Vorschriften verdienen, dann verzerren sie den biblischen Glauben.
Für Jesus steht die innere Haltung im Zentrum. Im Lateinischen kommt „credere“(= glauben) von „cor dare“: sein Herz schenken. Jesus verkündet einen Gott, der nicht auf äußere Riten, sondern auf das Innere des Menschen schaut. Unsere Wertschätzung von Gewissen und Authentizität ist unter anderem von dieser Lehre Jesu inspiriert. Im Unterschied dazu führt im traditionellen Islam die Betonung der äußeren Form, verbunden mit einer hohen Sozialkontrolle, zu einer weniger ausgeprägten Wertschätzung des Individuums. SN: Viele sagen, der Islam sei unkompliziert – im Unterschied zu christlichen Ideen wie die Dreifaltigkeit Gottes. In der Tat gibt der Islam sehr genaue Regeln für den Alltag vor. Ob aber die Fülle an Vorschriften das Leben wirklich einfach macht, da bin ich mir nicht sicher. Auch darf nicht vergessen werden: Das Glaubensbekenntnis des Islam hat im Lauf der Geschichte zu einer Vielzahl komplexer Denksysteme geführt. Es gibt Schulen und Auslegungen, die einander widersprechen – und sich untereinander auch bekämpfen.
Der christliche Glaube, dass der eine Gott zugleich dreifaltig ist, klingt zweifelsohne sehr kompliziert. Oder schlichtweg verrückt. Aber im Glauben an den dreieinen Gott geht es um die wichtigste menschliche Grunderfahrung: die Erfahrung der Liebe. Liebe braucht ein Gegenüber, und sie will fließen. Wenn Gott Liebe ist, kann er nicht nur eins sein. Dann muss diese Einheit in sich ein Gegenüber haben. SN: Muslime halten ihre heilige Schrift, den Koran, sehr hoch. Ein Vorbild, wie Christen die Bibel schätzen sollten? Viele Muslime kennen ihre heilige Schrift sehr gut und können oft lange Passagen des Koran auswendig. Auch Christen täte es gut, wenn sie sich mit der Bibel, vor allem mit den Evangelien, mehr beschäftigten. Vielleicht würden sie dann wie Mark Twain erfahren: Mich beunruhigt nicht das in der Bibel, was ich nicht verstehe, sondern das, was ich verstehe: die Herausforderung, Gott und den Mitmenschen und mich selbst vorbehaltlos zu lieben.
Im Unterschied zum Koran verstehen Christen die Bibel aber nicht als wörtlich von Gott diktierten Text. Sie ist vielmehr eine Sammlung von Zeugnissen, wie Menschen Gott begegnet sind. Es geht zentral um die Erfahrung, dass Frauen und Männer in Jesus die einmalige Nähe Gottes erfahren haben. SN: Die Koransuren beginnen „Im Namen Gottes des Allerbarmers“. Ist das der barmherzige Gott, der im Christentum manchmal durch den strafenden Gott verdeckt wurde? Zwar beginnen so gut wie alle Suren mit der Anrufung Gottes als des Barmherzigen, aber in den Texten werden auch viele drastische Strafen sowohl im Diesseits als auch im Jenseits angekündigt. Insgesamt legt der Koran einen starken Akzent auf die richtige Lebensführung und unterstreicht dies mit der Aussicht auf Belohnung beziehungsweise Bestrafung. Navid Kermani spricht in diesem Zusammenhang einen gesellschaftlich brisanten Punkt an: Er fordert einen innerislamischen Dialog darüber, wie mit Nichtmuslimen umgegangen werden soll. Und darüber, dass aus islamischer Sicht Gott noch im Jenseits ewige Gewalt gegen Nichtmuslime ausüben wird. Kermani beklagt, dass es diesen Dialog noch nicht gibt.
Es gehört zum Sündenfall des Christentums, dass die Botschaft Jesu verzerrt wurde. Mit der Vorstellung eines strafenden Gottes versuchte man, Regeln durch Lohn und Strafe einzuschärfen und Macht auszuüben. Jesus hingegen spricht von Gott wie von einer Frau, die alles auf den Kopf stellt, um ein verlorenes Geldstück wiederzufinden. Er vergleicht ihn mit einem Vater, der seinen Sohn voll Freude aufnimmt, obwohl dieser sein ganzes Vermögen verprasst hat. SN: Mohammed erscheint als teils ambivalente Persönlichkeit. Was hat der „Prophet“trotzdem Entscheidendes über Gott in die Welt gebracht? Während der Zeit seiner Offenbarung in Mekka predigte Mohammed den Glauben an Gott und forderte ein gerechteres Handeln unter den Menschen. Damals vertrat er auch eine große Toleranz gegenüber Christen und Juden. Als er nach Medina auswanderte, erlangte er politische und militärische Macht. Er wirkte als Oberhaupt der islamischen Gemeinschaft und als Kriegsherr. Einen Teil der Kriegsbeute wie etwa Sklavinnen nahm Mohammed für sich persönlich in Anspruch. In den Offenbarungen aus dieser Zeit finden sich auch politische Regelungen beispielsweise für Familienrecht oder Kriegsrecht.
Ich bin überzeugt: Die Botschaft des frühen Mohammed aus seiner Zeit in Mekka kann für unsere heutige Welt und auch für das Verhältnis zwischen Muslimen, Juden und Christen von großem Wert sein.
Melanie Wolfers ist Theologin, Philosophin und Ordensfrau (Salvatorianerin). Sie leitet IMpulsLEBEN und ist Autorin. Jüngst hat sie gemeinsam mit dem Priester und Dichter Andreas Knapp das Buch veröffentlicht: „Religion als Sprengstoff? Was man heute über Islam und Christentum wissen muss“, 160 S., 15,50 €, bene 2018. Info: