„Die Erste Republik wird verdrängt“
Österreich sieht sich gern im Lichte der Habsburger – bis hin zur touristischen Vermarktung. Die Erste Republik ist dagegen kontrovers. Was hat sie bedeutet und warum wird sie nicht erinnert?
SALZBURG. Heuer feiert in Österreich die Erste Republik ihren 100. Geburtstag. Am 12. November 1918 um 15 Uhr wurde von der Parlamentsrampe aus die Republik Österreich ausgerufen, vor mehr als hunderttausend Menschen.
Aber in der Öffentlichkeit sei die Erinnerung an diese Zeit blass, sagt der Historiker Laurence Cole von der Universität Salzburg. „Während der sogenannte Anschluss Österreichs an Hitler-Deutschland im Jahr 1938 im kollektiven Gedächtnis und in der Erinnerungskultur präsent ist, hat man bei der Ersten Republik fast das Gefühl, dass darüber ein Schleier des Vergessens liegt, die Zeit ist nicht öffentlich aufgearbeitet, teilweise aus verständlichen Gründen. Die Republik ist ja gescheitert.“
Nach dem verlorenen Weltkrieg herrscht große Not. Die Arbeitslosigkeit ist hoch. Immer mehr Menschen zweifeln an der Überlebensfähigkeit der jungen Republik. Die gesellschaftlichen Spannungen werden durch die ideologischen Gegensätze zwischen den beiden großen politischen Lagern, den Christlichsozialen und den Sozialdemokraten, angeheizt und entladen sich 1934 im Bürgerkrieg. 356 Todesopfer sind die traurige Bilanz. Die Republik ist zu Ende.
Es folgen Jahre der Diktatur. „Es war eine Leistung, dass die Erste Republik überhaupt gegründet wurde. Aber sie konnte leider nicht stabilisiert werden“, sagt der aus Großbritannien gebürtige Historiker, der sich intensiv mit dem Untergang der Monarchie und mit der Erinnerung sowie den Gedächtnisorten nach 1918 beschäftigt hat.
Dass es bei runden Jahren zur Proklamation der Ersten Republik bisher wenig Auseinandersetzung damit gegeben hat, bringt Cole auch in Zusammenhang mit der Frage nach dem Aufbau der österreichischen Identität. „Österreich sieht sich gern im Lichte der Habsburger Vergangenheit. Denken Sie an die touristische Vermarktung der Monarchie. Die Erste Republik hingegen ist ein kontroverses, schwieriges Terrain. Da einen Konsens zu finden war schwierig, deswegen griff man lieber auf Bilder aus der Zeit der Monarchie zurück. Bei 1918 denkt man wahrscheinlich mehr an das Ende der Monarchie als an die Gründung der Republik.“
In der Literatur ist oft von der „ungeliebten“oder der „verdrängten“Republik die Rede. Es wäre sinnvoll, eine breite öffentliche Debatte über die Jahre der Ersten Republik zu führen, ähnlich wie das im Zuge der Waldheim-Affäre über die Rolle Österreichs im Nationalsozialismus geschah, sagt Cole.
„Um weitermachen zu können, ist es manchmal natürlich notwendig, Dinge ruhen zu lassen. Das ist die eine Seite. Auf der anderen Seite ist es so, dass Dinge, die nicht aufgearbeitet wurden, unser Denken und Handeln direkt oder indirekt weiter beeinflussen. Ich denke da an Spanien und den Katalonien-Konflikt. Das Vermächtnis des äußerst blutigen Spanischen Bürgerkriegs von 1936 bis 1939, bei dem ungefähr 800.000 Menschen ihr Leben verloren haben, erschwert die gegenseitige Vertrauensbildung, da die Geschichte lange Zeit offiziell verdrängt wurde.“
Im Fall von Österreich, meint Laurence Cole, hätten die Umstände des Zerfalls der Monarchie Staat und Gesellschaft in der Ersten Republik nachhaltig geprägt. „Klar ist, dass die unterschiedlichen Interpretationen des Ersten Weltkriegs und des Zusammenbruchs das Verhältnis zwischen der Volkspartei und den Sozialdemokraten in der Ersten Republik belastet haben. Der Kampf um die Erinnerung an den Krieg – was der Sinn des Kriegs eigentlich war – trug zur Zuspitzung der gesellschaftlichen Spannungen bei.“
In Österreich nach 1918 mussten die Menschen mit der Niederlage im Krieg und den Folgen des Untergangs der Monarchie umgehen. „Klarerweise ist der Umgang mit den Leiden des Kriegs und der Niederlage nie einfach. Aber wie man die Vergangenheit aufarbeitet, ist für die Rahmenbedingungen des politischen Diskurses von Bedeutung. Ein Konsens über die Bedeutung des Kriegs war in der Ersten Republik schwer zu finden, und das hat den demokratischen Prozess belastet“, sagt Cole.