Mediale Hetze verführt manchen zum Griff nach einer Waffe
Schon vor fünfzig Jahren riefen widerliche Hasspostings zur Gewalt auf. Damals nannte man sie noch „Schlagzeilen“.
So mancher verflucht den Tag, an dem Twitter und Facebook erfunden wurden. Die beiden gar nicht so „sozialen“Medien haben ein Eigenleben entwickelt, das vielen das Leben erschwert, manchen auf die Nerven geht und hin und wieder so richtig gefährlich wird. Da bilden sich Echokammern und Filterblasen, die jeden vernünftigen Diskurs unmöglich machen. Da beweist der US-Präsident auf Twitter zwar, dass er schreiben kann, aber nicht, dass er auch zu vernünftigem und logischem Denken fähig ist. Da entblödet sich eine deutsche AfD-Abgeordnete nicht, den erweiterten Suizid eines geistig kranken Deutschen per Tweet als Nachahmung islamistischen Terrors zu bezeichnen. In beiden Fällen finden sich genügend Abnehmer für diesen Unsinn.
Doch zu glauben, massive und massenhafte Beeinflussung von Menschen zum Schlechteren sei eine moderne Erscheinung, wäre verfehlt. Die Entwicklung von neuen Formen der Kommunikation hat immer schon dazu geführt, dass sich Meinungen, Ansichten, vernünftige Diskurse oder auch Propaganda und Hetzreden schneller verbreiteten als davor. Ob Buchdruck, Radio, Fernsehen oder Internet – jede Art der Kommunikation hat ihre guten und ihre schlechten Folgen.
Vor fünfzig Jahren erlebte Deutschland eine besonders dramatische Entwicklung. Die nach dem Zweiten Weltkrieg geborenen Kinder begannen in den 60er-Jahren gegen ihre Elterngeneration aufzubegehren. In Deutschland, regiert von Bundeskanzler Kurt Georg Kiesinger, einem ehemaligen Nazi, demonstrierten vor allem Studenten gegen Kapitalismus und Imperialismus. Sie träumten den wirren Traum von einer idealistisch-kommunistischen Gesellschaft. Und sie trugen ihre Träume radikal auf die Straße. Besonders der Tod des Studenten Benno Ohnesorg, den ein Polizist durch Kopfschuss getötet hatte, radikalisierte die Jugend und verschärfte den Konflikt zwischen Demonstranten und Staatsmacht.
Die Medien spielten in diesem Konflikt eine traurige, ja manchmal beschämende Rolle. Einen der Anführer der Studentenbewegung, Rudi Dutschke, stilisierten manche Zeitungen, vor allem jene des Springer-Konzerns, zum „Polit-Gammler“(wegen seiner langen Haare) und zum „Volksfeind Nummer eins“. Die Folgen solcher Hetz-Schlagzeilen waren erschütternd: Ein junger Mann, der Dutschke ähnlich sah, entging nur knapp einem Mob, der ihn lynchen wollte. Und am 11. April 1968 schoss ein 23-jähriger Nazi drei Mal auf Dutschke und verletzte ihn lebensgefährlich.
Hass und Hetze brauchen weder Facebook noch Twitter, ja nicht einmal das Internet. Vor fünfzig Jahren reichten ein paar Schlagzeilen auf dem deutschen Boulevard.