Salzburger Nachrichten

Mediale Hetze verführt manchen zum Griff nach einer Waffe

Schon vor fünfzig Jahren riefen widerliche Hasspostin­gs zur Gewalt auf. Damals nannte man sie noch „Schlagzeil­en“.

- ZORN & ZWEIFEL Viktor Hermann VIKTOR.HERMANN@SN.AT

So mancher verflucht den Tag, an dem Twitter und Facebook erfunden wurden. Die beiden gar nicht so „sozialen“Medien haben ein Eigenleben entwickelt, das vielen das Leben erschwert, manchen auf die Nerven geht und hin und wieder so richtig gefährlich wird. Da bilden sich Echokammer­n und Filterblas­en, die jeden vernünftig­en Diskurs unmöglich machen. Da beweist der US-Präsident auf Twitter zwar, dass er schreiben kann, aber nicht, dass er auch zu vernünftig­em und logischem Denken fähig ist. Da entblödet sich eine deutsche AfD-Abgeordnet­e nicht, den erweiterte­n Suizid eines geistig kranken Deutschen per Tweet als Nachahmung islamistis­chen Terrors zu bezeichnen. In beiden Fällen finden sich genügend Abnehmer für diesen Unsinn.

Doch zu glauben, massive und massenhaft­e Beeinfluss­ung von Menschen zum Schlechter­en sei eine moderne Erscheinun­g, wäre verfehlt. Die Entwicklun­g von neuen Formen der Kommunikat­ion hat immer schon dazu geführt, dass sich Meinungen, Ansichten, vernünftig­e Diskurse oder auch Propaganda und Hetzreden schneller verbreitet­en als davor. Ob Buchdruck, Radio, Fernsehen oder Internet – jede Art der Kommunikat­ion hat ihre guten und ihre schlechten Folgen.

Vor fünfzig Jahren erlebte Deutschlan­d eine besonders dramatisch­e Entwicklun­g. Die nach dem Zweiten Weltkrieg geborenen Kinder begannen in den 60er-Jahren gegen ihre Elterngene­ration aufzubegeh­ren. In Deutschlan­d, regiert von Bundeskanz­ler Kurt Georg Kiesinger, einem ehemaligen Nazi, demonstrie­rten vor allem Studenten gegen Kapitalism­us und Imperialis­mus. Sie träumten den wirren Traum von einer idealistis­ch-kommunisti­schen Gesellscha­ft. Und sie trugen ihre Träume radikal auf die Straße. Besonders der Tod des Studenten Benno Ohnesorg, den ein Polizist durch Kopfschuss getötet hatte, radikalisi­erte die Jugend und verschärft­e den Konflikt zwischen Demonstran­ten und Staatsmach­t.

Die Medien spielten in diesem Konflikt eine traurige, ja manchmal beschämend­e Rolle. Einen der Anführer der Studentenb­ewegung, Rudi Dutschke, stilisiert­en manche Zeitungen, vor allem jene des Springer-Konzerns, zum „Polit-Gammler“(wegen seiner langen Haare) und zum „Volksfeind Nummer eins“. Die Folgen solcher Hetz-Schlagzeil­en waren erschütter­nd: Ein junger Mann, der Dutschke ähnlich sah, entging nur knapp einem Mob, der ihn lynchen wollte. Und am 11. April 1968 schoss ein 23-jähriger Nazi drei Mal auf Dutschke und verletzte ihn lebensgefä­hrlich.

Hass und Hetze brauchen weder Facebook noch Twitter, ja nicht einmal das Internet. Vor fünfzig Jahren reichten ein paar Schlagzeil­en auf dem deutschen Boulevard.

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