Nur Frauen verändern dieses Unrecht
Najem Wali schildert Sünden einer saudischen Frau und versichert: „Ich bin auf ihrer Seite.“
Ein aufgewecktes Mädchen wächst in Saudi-Arabien auf – neben Golfkriegen, US-Marines und salafistischer Religionspolizei. Diese Sara ist Hauptfigur im neuen Roman des aus dem Irak stammenden Autors Najem Wali, der soeben in Bagdad und auf Einladung des Vereins „prolit“und dessen Leiterin Petra Nagenkögel in Salzburg gewesen ist. SN: Wer ist Sara? Najem Wali: Sara ist nicht eine bestimmte Frau, deren Geschichte ich niedergeschrieben habe. Sie ist eine Summe aus verschiedenen Frauen. Allerdings hat mir tatsächlich eine Frau ihr Notizheft gegeben, das habe ich im Roman verarbeitet. Ich schreibe immer Fakten und Fiktion. SN: Sie hatten das echte Notizbuch einer saudischen Frau? Ja, so wie ich das im Nachwort erzähle. Da ich nicht wollte, dass man die echte Sara erkennt, habe ich andere Geschichten eingeflochten – von anderen Mädchen und Frauen. Es gibt aber viel Reales in diesem Buch. Tatsächlich war ich von der deutschen Botschaft im April 2010 eingeladen, eine Reise durch SaudiArabien zu machen, sonst hätte ich viele Details nicht wissen können. SN: Was haben Sie in SaudiArabien unternommen? Ich habe Lesungen gegeben. Da hatte ich nur Männer vor mir. Die Frauen waren im Hintergrund und sahen mich nur auf Monitoren. Aber sie konnten über Mikrofon Fragen stellen. Ich hörte also ihre Stimmen, und sie fragten präzise, engagiert, neugierig, wunderbar! Einige kannten sogar meinen Roman „Die Reise nach Tell al-Lahm“, obwohl der in den Golfländern verboten war. SN: Wieso kannten die den? Vermutlich hat ihn jemand eingeschmuggelt. SN: Kann man andere Ihrer Bücher in Saudi-Arabien kaufen? Nein. Mein Verleger Mohammed Hadi durfte deshalb nicht einmal zur heurigen Buchmesse nach Riad. Auch vor drei Wochen durfte er nicht auf die Messe nach Bahrain.
Der Roman „Saras Stunde“war 2016 fertig. Aber kein Verlag wollte ihn – aus Angst vor Saudi-Arabien. Denn arabische Verleger verdienen vor allem bei Buchmessen, die in allen arabischen Ländern stattfinden. Für die Messe in Riad muss man eine Liste der Bücher einreichen. Manchmal werden einzelne Titel verboten, aber wenn nur ein Buch des Verlags sich gegen Saudi-Arabien richtet, kann es sein, dass der ganze Verlag draußen bleiben muss. Das ist meinem Verleger passiert SN: Wie haben Sie diesen Verleger gefunden? Zwei Jahre habe ich gesucht. Die deutsche Übersetzung war fast fertig, aber in Arabisch wollte ihn niemand. Ich war verzweifelt. Als ich im November letzten Jahres in Schardscha war, einem Emirat, kam ein junger Verleger – halb Libanese, halb Iraker – auf mich zu: Er wolle den Roman herausbringen. Welche Überraschung! Ende Jänner ist „Saras Stunde“auf Arabisch erschienen. Und seine Rechnung geht auf! SN: Inwiefern? Ich komme gerade aus Bagdad. In der Buchhändlerstraße sind die Menschen in Schlangen gestanden! Ich war auf der Buchmesse in Bagdad, und ich war auf Lesereise im Land – überall großes Interesse, überall viele Menschen! SN: Die Buchhändlerstraße? Das ist eine der ältesten Straßen in Bagdad, at-Taib al-Mutanabbi. Dort war früher die erste Universität in der Zeit des legendären Kalifen Harun al-Raschid. Es ist Tradition, dass an dieser Straße vor allem an Freitagen Buchhändler stehen. Das ist eine Art Flaniermeile für die Mittelschicht. Ich hatte dort vor zehn Tagen eine Signierstunde. Und es kamen Hunderte Menschen – sogar einige aus Mossul! SN: Im Irak ist Ihr Roman erlaubt? Ja, nach dem Sturz von Saddam Hussein 2003, kein Problem. Bis jetzt wird er in allen arabischen Ländern verkauft – außer SaudiArabien und Bahrain. SN: „Saras Stunde“erzählt über Veränderungen in Saudi-Arabien in den letzten drei Jahrzehnten. Es geht nicht allein um Saudi-Arabien, sondern um jede strenge Gesellschaft und die Situation der Frauen sowie um den Willen einer Frau, sich durchzusetzen. Es könnte auch ein anderes despotisches Land sein – ein anderer Golfstaat, ein anderes islamisches Land wie Afghanistan, vielleicht sogar in Europa. SaudiArabien ist ein starkes Beispiel, daher handelt der Roman dort. Ich will aber die Namen der Frauen, die in meinem Roman vorkommen, nicht nennen, denn sie leben dort. SN: Wäre das zu gefährlich? Ja. Und ich traue, den Machthabern dort nicht. SN: Kronprinz Mohammed bin Salman stellt doch Reformen in Aussicht – Kinos, Ende des Fahrverbots für Frauen, gelockerte Kleidervorschriften. Allein das Autofahren: Wenn man will, dass Frauen Autos fahren, warum zögert man das ein Jahr lang hinaus? Viele Frauen in Saudi-Arabien haben längst Führerscheine, einige aus den USA. Warum braucht man jetzt eine Kommission, die prüft, ob Führerscheine richtig gemacht sind? Wenn man ein Gesetz nicht umsetzen will, dann gründet man eine Kommission.
Und man kann nicht Liberalisierungen behaupten, während man einen Krieg führt! Im Jemen ist seit drei Jahren Krieg, aber es ist ein vergessener Krieg, obwohl dort jeden Tag getötet und zerstört wird.
Man kann nicht von Reformen reden, während man politische Gefangene hält. Der Blogger Raif Badawi ist seit Jahren im Gefängnis, weil er ein liberaler Mensch ist. Aber ihm wird Beleidigung des Islam vorgeworfen. Wie kann man von Lockerung reden und eine Religionspolizei, die „Behörde zur Verbreitung von Tugendhaftigkeit und der Verhinderung von Lastern“, einsetzen? Warum verbietet man ein Buch? Diese angeblichen Reformen sind nur hohle PR-Kampagnen eines despotischen Staats. SN: Was von Ihren Erfahrungen über Frauen in Saudi-Arabien ist für den Roman relevant? Die Unterdrückung von Frauen hat einen ökonomischen Aspekt: Die Saudis brauchen die Frauen nicht als Arbeitskräfte in Betrieben. Denn ihr Reichtum basiert auf Erdöl. So können die Männer der mächtigen Schicht viele Frauen heiraten. Frauen müssen sich außerhalb des Haues verschleiern, bis zum Alter von vierzig Jahren dürfen sie ohne Zustimmung eines nahen Verwandten nicht das Land verlassen.
Allerdings habe ich in meinem Hotel Frauen ohne Schleier gesehen! Das waren Unternehmerinnen auf einer Konferenz. Es gibt also durchaus Frauen, die ihre Schicksale in die Hand nehmen!
Als Amerikaner wegen des Kuwait-Kriegs nach Saudi-Arabien kamen, haben sie den Alltag verändert. Viele Mädchen sahen weibliche US-Marines unverschleiert, in Autos oder Alkohol trinkend. Da fragten sie: Warum dürfen wir das nicht? Das schildere ich im Roman. SN: Im Hintergrund erzählen Sie von Golfkriegen und Interesse der USA. Der Roman beginnt damit, dass die saudischamerikanische Ölförderfirma Aramco ihren Sitz in Dhahran Bei Dhahran, wo ein Großteil des Romans spielt, sind etwa achtzig Prozent der saudischen Ölfelder. Von dieser Ostprovinz über Kuwait bis in den Irak sind Ölfelder – das ist die amerikanische Achse. Von diesen wirtschaftlichen US-Interessen profitieren die Saudis. Auch Saras Vater verdient als Lieferant der US-Militärbasen. Diese Kriege und Wirtschaftsinteressen konfrontiere ich mit dem Mädchen. Kinder beobachten genau und sind am ehesten gerecht. Und wenn eine Änderung der Ungerechtigkeiten kommt, dann kommt sie von Frauen. SN: Ein Kapitel heißt „Saras Sünde“. Was ist ihre Sünde? Das kann ein Leser in vieler Hinsicht verstehen. Es gibt eine Sünde, der sie ihr Onkel bezichtigt, weil sie als Kind über die absurde Strenge in der Schule geschrien hat. Darauf verbreitet der Onkel, Leiter der Religionspolizei, ein Schreiben an alle Schulen des Landes, dass Sara vom Teufel besessen sei.
Zum anderen setzt die erwachsene Sara eine Tat, mit der sie Mörderin wird: Sie tötet diesen Onkel. Ist das eine Sünde? Ich lasse es offen. SN: Mord ist keine Sünde? Sie tötet jenen salafistischen Onkel, der ihr Leben zerstört hat. Das ist ein Racheakt. Ob das Sünde ist, soll jeder Leser entscheiden. SN: Wie beurteilen Sie das? Natürlich bin ich auf ihrer Seite. SN: Auch beim Mord? Ich plädiere nicht dafür, dass sie morden soll. Aber ich bringe dafür Verständnis auf, dass sie es gemacht hat. Es ist gerecht, aber trotzdem nicht unbedingt zuzubilligen.
Eine Leserin aus dem Oman hat das auf Facebook wunderbar formuliert: Dieser Mord symbolisiere das Ende einer Epoche. Sara musste das tun, damit diese Epoche zum Schweigen gebracht wird. SN: Es gibt ein altes Sprichwort auf Arabisch: „Kairo schreibt, Beirut druckt, Bagdad liest.“Und ich sage noch dazu: „Und Riad verbietet.“
Heute wird überall geschrieben, aber nach wie vor wird das meiste in Beirut gedruckt. Da es dort keine Zensur gegeben hat, haben Verlage eine alte Tradition. Auch alle meine Bücher sind dort erschienen.
Am meisten gelesen wird im Irak, vor allem in Bagdad, das immer ein Zentrum des Wissens gewesen ist. Nach 2003 entstanden einige Verlage, aber die werden sich nicht gegen die Libanesen durchsetzen. Bis 2003 waren religiöse Bücher im Vormarsch, jetzt fragt man mehr nach Romanen – nach arabischen und übersetzten. Man liest Kafka, sogar Thomas Bernhard. Wenn Sie als Österreicher hinkommen, wird man sofort sagen: „Ach, ich habe elf Meter Handke gelesen!“
„Kein Verlag wollte meinen Roman – aus Angst vor Saudi-Arabien.“
SN: Sind Ihnen bei Ihrer Lesereise Ende März Veränderungen aufgefallen? Vor neun Monaten, als ich zuletzt dort war, war das Land zerrütteter, die Gefahr von Autobomben war größer, man konnte nachts nicht ausbleiben. Jetzt habe ich viele Leute abends in Bars, in Restaurants gesehen. Die Buchmesse in Bagdad war voller Menschen. Es freut mich, dass man offenbar aus der Sackgasse des rigiden religiösen Einflusses kommen will. Ich hoffe, das gelingt.
„Die Kriege konfrontiere ich mit einem Mädchen.“Najem Wali, Schriftsteller
SN: Möchten Sie zurückgehen? Wohin? SN: Nach Hause? Nach Bagdad? Nach Basra? Zuhause ist mein Schreibtisch. Exil ist eine Einbahnstraße. Wenn man ins Exil geht, soll man nicht die Jahre zählen, bis man zurückgeht. Man muss ein neues Leben anfangen.
Ich bin froh, dass ich seit 2003 wieder einreisen kann. Ich fahre mindestens ein Mal im Jahr hin und mache Recherchen. Im Irak wimmelt es ja vor Geschichten! Jüngste Bücher:
Najem Wali, „Saras Stunde“, Roman, 352 Seiten, Hanser Verlag, Berlin 2018. „Balkan Route“, Reiseberichte, 176 Seiten, Matthes & Seitz, Berlin 2017. Beide hat Markus Lemke übersetzt.