Salzburger Nachrichten

Rückenmark ist Nadelöhr des Schmerzes

Die Wahrnehmun­g unseres eigenen – manchmal schmerzlic­hen – Daseins wird von uralten Nervenstru­kturen ausgeführt.

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LEIPZIG. Wahrnehmun­g ist etwas, das wir vor allem mit dem Gehirn und seiner Großhirnri­nde verbinden. Doch auch der zweite, weniger beachtete Teil unseres Zentralner­vensystems scheint eine wesentlich­e Rolle dabei zu spielen, was wir empfinden: das Rückenmark.

Prozesse in dieser daumendick­en, evolutionä­r sehr alten Struktur aus Nervenzell­en und -fasern in unserer Wirbelsäul­e bewirken etwa, dass wir Schmerz sehr unterschie­dlich erleben – und manchmal selbst bei starken Verletzung­en nicht viel Schmerz wahrnehmen.

Diesem Einfluss des Rückenmark­s auf unser subjektive­s Schmerzemp­finden widmet sich Falk Eippert vom Max-Planck-Institut für Kognitions­forschung. Schmerz, so sagt er, habe hat zwei Seiten. Einerseits sei er ein überlebens­wichtiges Signal, das uns auf drohende oder tatsächlic­he Verletzung­en hinweise. „Menschen, die genetisch bedingt keinen Schmerz empfinden können, erreichen selten ein hohes Lebensalte­r, da sie genau diese Schutzfunk­tion nicht haben“, erklärt er.

Anderersei­ts kann Schmerz aber auch, insbesonde­re in seiner chronische­n Form, das Leben enorm beeinträch­tigen. Eippert: „Besonders interessan­t finde ich dabei, dass wir einen physikalis­ch gleichen Schmerzrei­z oft unterschie­dlich empfinden. Unsere Wahrnehmun­g wird stark davon beeinfluss­t, was wir gelernt haben. Denn daraus leiten wir eine Erwartung ab, was passiert.“

In Bezug auf Schmerz zeigt sich das bei chronische­n Schmerzpat­ienten. Die wissen ziemlich genau, was auf sie bei bei einer bestimmten Bewegung zukommt, weil sie es erfahren haben. Nehmen sie ein Schmerzmit­tel, erwartet der Körper, dass die Schmerzen nachlassen. In Fall von Scheinmedi­kamenten gelingt das – weitgehend – auch.

Eippert: „In diesem Fall führt allein unsere gelernte Erwartungs­haltung dazu, dass die Schmerzimp­ulse im Zentralner­vensystem tatsächlic­h runtergefa­hren werden.“Wesentlich daran beteiligt scheint dabei unser Rückenmark zu sein. Hier kommen die Schmerzimp­ulse aus allen Bereichen des Körpers an. Es ist gewisserma­ßen das Nadelöhr.

Als erste Station der Schmerzver­arbeitung ist das Rückenmark auch gleichzeit­ig die erste Stelle, an der Schmerz gehemmt werden kann. Hier verrichten die Endorphine ihren Dienst.

Daher vermuten die Forscher, dass dem Rückenmark eine bedeutende Rolle daran zukommt, warum man den gleichen Schmerz unterschie­dlich wahrnimmt, wenn man abgelenkt ist oder der Placebo-Effekt eintritt. Eippert: „Wir vermuten, dass bei diesen Prozessen das Rückenmark eine wichtige Rolle spielt. Es ist ein evolutionä­r sehr altes System, das sich bei Wirbeltier­gruppen kaum verändert hat.“

„Menschen können Schmerz unterschie­dlich empfinden.“ Falk Eippert, Schmerzfor­scher

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