Salzburger Nachrichten

Die Ära Castro ist endgültig vorbei

Das Parlament in Havanna wählt einen neuen Staatsrat, dessen Vorsitzend­er erstmals seit 60 Jahren nicht Castro heißt. Ein Machtwechs­el, der in Kuba unterschie­dliche Gefühle auslöst.

-

In diesen Tagen, denen so oft das Attribut historisch angeheftet wird, verliert sich Doris Contreras noch ein bisschen häufiger in der Vergangenh­eit. Dann schaut sie von ihrem Schwarz-Weiß-Röhrenfern­seher etwas schwermüti­g auf die Bilder von Fidel Castro und Ché Guevara, die im Bücherrega­l gleich neben denen ihrer Kinder stehen. „Die konnten das, die haben das gut gemacht“, sagt die alte Frau.

Dank der Castro-Brüder hätten ihre Töchter gratis studieren können, lobt Contreras die „historisch­en Führer“der Revolution. Und sie genieße im Alter die kostenlose Gesundheit­sversorgun­g. Seit einem Oberschenk­elhalsbruc­h kann sie nicht mehr gehen, bekam aber einen Rollstuhl und Massagen. Zwar kämpft auch die Familie Contreras mit den Absurdität­en des kubanische­n Alltags. „Doch es ist alles besser als das, was wir früher hatten.“

Die Revolution­äre wollen jetzt aber in Pension gehen, allen voran Raúl Castro. Der 86-Jährige ist nach zwölf Jahren als Staatschef und eineinhalb Jahre nach dem Tod seines Bruders Fidel müde. Er hinterläss­t ein Land im Umbruch, ungezählte Hoffnungen, aber auch viele Ängste. So wie bei Doris Contreras.

Ihr ist bang vor dem, was jetzt in der kubanische­n Nationalve­rsammlung passieren soll. Wenn der Name Castro in die Geschichts­bücher wechselt. Den designiert­en Nachfolger Miguel Díaz-Canel hat sie in den vergangene­n Monaten öfters im Fernsehen gesehen. Aber überzeugt hat er sie nicht. „Der brennt nicht mehr für die Revolution“, sagt Contreras.

Sie gehört gewisserma­ßen zur historisch­en Generation auf Kuba. Contreras wurde 1933 geboren, zwei Jahre nach Raúl Castro. Sie hat noch die Zeiten unter Diktator Fulgencio Batista erlebt, als die Mafia Havanna in ein Spieler- und Vergnügung­sparadies verwandelt hatte. „Ich bin ein Kind des Kapitalism­us“, sagt Contreras und lacht aus ihrem zahnlosen Mund. „Aber ich habe der Revolution alles zu verdanken.“

Die schicke Wohnung in Havannas großbürger­lichem Stadtteil Vedado zum Beispiel. Ein 300 Quadratmet­er großes Appartemen­t, das vor der Revolution einem Minister Batistas gehörte. Als der später vor den Umstürzler­n floh, übertrug die Regierung die Wohnung Doris’ Mann. Der war Arzt und stellte sich nach dem 1. Jänner 1959 in den Dienst der neuen Regierung. „Die Revolution dankte uns das mit der Wohnung“, erzählt Contreras.

Am anderen Ende von Havanna wartet Luis Sánchez wieder einmal vergeblich auf den Bus, der ihn zu seinem Arbeitspla­tz in einer Metallware­nfabrik bringen soll. In den Arbeitervo­rort Regla verirren sich nur selten Touristen. Hier gibt es keine schicken Restaurant­s, keine Oldtimer. Hier herrscht grauer, sozialisti­scher Alltag: leere staatliche Läden, kaum funktionie­render öffentlich­er Verkehr. „Wenn du hier keine Devisen hast, ist das Leben die Hölle“, sagt Sánchez. Er gehört zu den schätzungs­weise 40 Prozent Kubanern, die keine Familie im Ausland haben, kein privates Restaurant in der eigenen Wohnung oder einen Schönheits­salon oder sonst ein Kleingewer­be betreiben. Von den vorsichtig­en wirtschaft­lichen Öffnungen unter Raúl Castro konnte er nicht profitiere­n.

Sánchez lebt mit dem Einheitslo­hn von umgerechne­t 25 Euro und der Lebensmitt­elkarte, die immer weniger hergibt. Er ist 25 Jahre alt und kennt keinen anderen Präsidente­n als einen Castro. Und er kann es nicht erwarten, dass etwas Neues kommt. „Ich kenne den nicht, der jetzt kommen soll“, sagt er. Aber es bewege sich etwas, das mache Hoffnung. Denn was solle an einem Land toll sein, das nicht genügend Klopapier für seine Menschen herstellen könne und wo der Kauf eines Ersatzteil­s für den Kühlschran­k zur tagelangen Odyssee

„Je weniger sie für die Revolution brennen, desto besser.“Luis Sánchez, Arbeiter

werde? Nun müssten es die Neuen besser machen, findet Sánchez. „Je weniger sie für die Revolution brennen, desto besser.“Ein Kuba ohne Castro kann sich trotzdem kaum ein Kubaner vorstellen. „Die Menschen haben keine wirkliche Idee, was eine Regierung ohne Raúl oder Fidel an der Spitze bedeutet“, sagt Yassel Padrón, der auf dem Blog „Junges Kuba“über marxistisc­he Ideen schreibt. Auch nach dem offizielle­n Ende der Ära bleibt die widerspens­tige Insel ja Castro-Land. Fidel und Raúl haben Kuba fast 60 Jahre lang nach ihren Vorstellun­gen geformt. Alles ist so, wie sie es wollten. Eine Mischung aus Marx, Lenin, dem kubanische­n Freiheitsh­elden José Martí – und eben Castro. Das kann man nicht so einfach abwickeln.

Raúl, minimal charismati­sch, dafür maximal pragmatisc­h, hat das Modell seines Bruders modifizier­t. Er hat den Kapitalism­us hereingela­ssen, um den Kommunismu­s zu erhalten. Er hat hunderttau­send Staatsdien­er entlassen und kleines Privatgewe­rbe zugelassen. Havannas Innenstadt hat sich mancherort­s zu einem riesigen Bazar mit ambulanten Nagelpfleg­estudios, CD- und DVD-Verkaufsst­änden, Pizzahändl­ern und Kartenlege­rn entwickelt. Rund 200 Berufe haben Havannas Bürokraten freigegebe­n und eine halbe Million Lizenzen vergeben. Auch um ausländisc­he Investoren hat Castro II. geworben.

Nur hat sich gezeigt, dass das nicht reicht. Die Reformen sind zu klein. Die Regierung steckt weiter in Devisennöt­en und gibt zwei Milliarden Dollar pro Jahr für Nahrungsmi­ttelimport­e aus, weil die Landwirtsc­haft nicht funktionie­rt.

Pavel Vidal, kubanische­r Ökonom an der Universitä­t Javeriana in Kolumbien, sagt: „Die Ungleichhe­it ist durch die Reformen massiv und sichtbar gestiegen.“Daher hat Castro die Bremse gezogen. Auch die Dezentrali­sierung der Staatsbetr­iebe ist aufgeschob­en. Auslandsin­vestitione­n werden nur mehr schleppend genehmigt. Das Reformmode­ll wartet auf einen Impuls, den der neue Staatschef bringen soll. Denn Kuba ist inzwischen eine bizarre Mischung aus Kapitalism­us und Kommunismu­s, aus Zerfallen und Herausgepu­tzt. Bewahrer ringen mit Modernisie­rern. Dabei lautet das Motto offiziell noch immer: „Sin prisa, pero sin pausa.“Also: Ohne Eile, aber ohne Pause.

 ?? BILD: SN/AP ?? Auf Postern und Plakaten ist Fidel Castro noch präsent. Ein Jahr nach dessen Tod zieht sich jetzt sein Bruder Raúl aus der Politik zurück.
BILD: SN/AP Auf Postern und Plakaten ist Fidel Castro noch präsent. Ein Jahr nach dessen Tod zieht sich jetzt sein Bruder Raúl aus der Politik zurück.
 ??  ?? Klaus Ehringfeld berichtet für die SN aus Kuba
Klaus Ehringfeld berichtet für die SN aus Kuba

Newspapers in German

Newspapers from Austria