Richter hebeln den Flüchtlingsdeal aus
Das Oberste Verwaltungsgericht in Griechenland hat entschieden, dass Asylbewerber nicht mehr in Lagern auf den Inseln auf den Ausgang ihres Verfahrens warten müssen. Das hat auch Konsequenzen für das EU-Abkommen mit der Türkei.
Asylbewerber können sich künftig in Griechenland frei bewegen, sie müssen nicht mehr in den Registrierungslagern auf den ÄgäisInseln die Verfahren abwarten. Das entschied am Dienstagabend der Staatsrat, das Oberste Verwaltungsgericht Griechenlands. Damit kommen die Richter dem Flüchtlingsabkommen der EU mit der Türkei in einem zentralen Punkt in die Quere.
Bisher mussten alle Flüchtlinge und Migranten, die aus der Türkei auf die griechischen Ägäis-Inseln kamen, in den dortigen Lagern ausharren, bis über ihre Asylanträge entschieden ist. Wer abgelehnt wird, muss in die Türkei zurück. So sieht es das im März 2016 zwischen der Europäischen Union und Ankara geschlossene Flüchtlingsabkommen vor.
Weil sich die Asylverfahren in Griechenland über Jahre hinziehen können, sind die Lager auf den Inseln inzwischen völlig überfüllt. Auf Samos lebten Anfang dieser Woche 2984 Menschen in einem Camp, das nur für 648 Personen ausgelegt ist. Das Lager Moria auf Lesbos hat rund 3000 Plätze, beherbergt aber derzeit rund 6500 Menschen, darunter viele Familien mit kleinen Kindern und allein reisende Minderjährige.
Diese Zustände verletzten die Grundrechte der Asylbewerber, stellten die Richter des Staatsrats fest. Zudem würden den Bewohnern der Ägäis-Inseln durch die große Zahl der Flüchtlinge und Migranten auf engem Raum unzumutbare Lasten aufgebürdet. Die griechischen Behörden müssten deshalb den Asylbewerbern bis zum Abschluss ihres Verfahrens uneingeschränkte Bewegungsfreiheit im ganzen Land gewähren.
Die Entscheidung der Ersten Kammer des Staatsrats fiel knapp aus, mit vier Stimmen gegen drei. Aber das Urteil könnte weitreichende Folgen haben – nicht nur für Griechenland, sondern für die ganze EU. Denn damit wird ein zentrales Element des Flüchtlingsabkommens, die Rückführung abgelehnter Asylbewerber in die Türkei, ausgehebelt. Wenn Flüchtlinge auf griechischem Festland sind, muss die Türkei sie nicht zurücknehmen.
Die EU-Kommission reagierte am Mittwoch wortkarg. Man wisse von der Entscheidung der griechischen Richter, kenne aber noch keine Details. Zunächst sei es an den griechischen Behörden, die Folgen der Entscheidung zu analysieren.
Fest steht: Der Richterspruch gilt nicht rückwirkend für die bereits in den Lagern untergebrachten Menschen. Das sind rund 15.500. Aber sobald das Urteil in den nächsten Tagen veröffentlicht und damit rechtskräftig wird, müssen die griechischen Behörden alle Neuankömmlinge nach der Registrierung und der Stellung ihres Asylantrags auf das Festland reisen lassen.
Das dürfte sich unter den in der Türkei wartenden Migranten herumsprechen. Derzeit kommen durchschnittlich hundert Menschen täglich aus der Türkei über die Ägäis. Künftig könnten wieder mehr versuchen, auf die griechischen Inseln und weiter auf das Festland zu gelangen. Denn von dort gibt es viele Wege weiter nach Westeuropa: über die Adria nach Italien, auf Schleichwegen über den Balkan oder mit gefälschten Reisedokumenten per Flugzeug.