Ein Stück Holz kann tanzen Erasmus Grasser war Experte für Salinen
Ein Zeitgenosse von Michael Pacher und Veit Stoss kommt zu neuen Ehren.
MÜNCHEN. Allein wie der hölzerne Mann die Balance trotz des Knickses und des immensen, seine Ärmel in Flug versetzenden Schwungs hält, wie er seine Füße verrenkt und seine Finger prägnant moduliert, macht sichtbar: Jede Muskelfaser ist aufs Delikateste angespannt. Nein, nicht jede! Gesicht und Lächeln vermitteln Gelassenheit. Was für ein Jüngling präsentiert da seine Tanzkunst! Man beachte die Schnabelschuhe, die Schellenstrümpfe, die Taillenschnürung, das mit Kugelknöpfen verschlossene Hemd und erst den Hut! Die Krempe ist vorn aufgebogen und mit einem inwendig gewickelten Tuch befestigt.
Es sollte noch drei Jahrzehnte dauern, bis der italienische Diplomat und Autor Baldassare Castiglione das, was bereits dieser Tänzer zum Ausdruck bringt, beschreiben sollte: „eine gewisse Art von Lässigkeit, die das Können verbirgt und bezeigt, dass das, was man tut oder sagt, anscheinend mühelos zustande kommt“. Diese „Sprezzatura“gilt seither als hohe Kunst der scheinbar anstrengungslosen Eleganz.
Lang vor Castigliones Buch beginnt dieser heitere Virtuose – aber nein, es ja ist nur Holz! – zu tanzen. Er tut dies in der Stadt des Bieres.
Hier in München werkte ein Zeitgenosse von Michael Pacher, Tilman Riemenschneider und Veit Stoss, dem ähnlich hohe Reputation zusteht, doch heutzutage noch verwehrt ist: Erasmus Grasser. Weil dieser Bildhauer und Baumeister vor 500 Jahren gestorben ist, zeigt das Bayerische Nationalmuseum ab heute, Donnerstag, die erste umfassende Ausstellung seiner Werke.
Erasmus Grasser lebte ab 1475 in München und arbeitete hier – etwa für Frauenkirche und Alten Peter – sowie in Südbayern. Bis ins heutige Österreich reichte sein Wirken: Im Stift Nonnberg in Salzburg steht sein zwar weder in der Ausstellung gezeigter noch öffentlich zugänglicher, doch im Katalog beschriebener Heilig-Geist-Altar mit „Pfingstwunder“, der aus dem 1598 im Feuer zerstörten Konradinischen Salzburger Dom stammt. Erasmus Grasser hat die Erweiterung der Pfarrkirche von Schwaz in Tirol konzipiert. Ebenfalls als Baumeister war er nahe Salzburg maßgeblich tätig: 1501 bis 1507 war er oberster „pauund werchmayster“des herzoglichen Salzbrunnens in Reichenhall.
Die Ausstellung in Kooperation mit dem Diözesanmuseum Freising betört mit Erasmus Grassers extravaganten, expressiven, überaus lebendig wirkenden Schnitzereien. Die Moriskentänzer, die Erasmus Grasser als Dekor für das damalige städtische Tanzhaus in München geschaffen hat, sind heute noch viel kopierte Münchner Lieblinge. Sie waren der erste höfische Großauftrag, mit dem der damals junge Künstler sogleich Furore machte. Und sein Honorar für die zehn (vielleicht auch sechzehn) Figuren sei mit 172 Rheinischen Gulden höher gewesen als jenes, das Tilmann Riemenschneider gut ein Jahrzehnt später für den gesamten Münnerstädter Magdalenenaltar mit über 20 Figuren erhalten sollte, schildert Matthias Weniger vom Bayerischen Nationalmuseum im Katalog.
Diese glänzende, mit den Moriskentänzern beginnende Karriere Erasmus Grassers ist zu einem durch stupende Innovationskraft bedingt, die mehr an italienische Renaissance oder gar Barock denn an späte Gotik denken lässt. Zum anderen ist sie mit dem Ehrgeiz seines wichtigsten Auftraggebers zu erklären: Albrecht IV. von Bayern. Dieser Wittelsbacher strebte nach politischer, gesellschaftlicher und kultureller Vormacht. Für politische Macht kassierte er Regensburg, wenngleich nur vorübergehend. Auf Dauer eroberte er Landshut und vereinte so ober- und niederbayerisches Kernland zum Herzogtum Bayern. Für die gesellschaftliche Macht heiratete er gegen den Willen des Habsburger-Kaisers Friedrich III. dessen Tochter Kunigunde. Doch deren Bruder Maximilian I. pfiff seinen missliebigen Schwager aus Regensburg zurück und bremste ihn auch sonst ein.
Um kulturelle Vormacht aufzubauen, engagierte Albrecht IV. Künstler wie Erasmus Grasser. Übrigens hat dieser Herzog noch eine Großtat vollbracht: Er erließ 1487 jene Brauordnung, die das erste Münchner Reinheitsgebot vorgab.
Warum kaufte er von Erasmus Grasser Moriskentänzer? Mit dieser Zierde für das städtische Tanzhaus betonte der bayerische Herzog offenbar seinen Anspruch in dem eigentlich für bürgerliche Versammlungen und kommunale Feste genutzten Gebäude. Wie Morisken, diese im Zuge der spanischen Reconquista zwangschristianisierten Mauren, nach Bayern passen, ist nicht mehr genau nachzuvollziehen. Thomas Weidner vom Münchner Stadtmuseum berichtet im Katalog von englischen Quellen, denen zufolge Moriskentänzer um 1500 an Höfen und bei reichen Kaufleuten ähnlich entlohnt worden seien wie Minnesänger.