„Kleine Intifada im Klassenzimmer“
Die Medienberichte über judenfeindliche Beleidigungen und antisemitische Übergriffe in Berlin lösen deutschlandweit Empörung aus. Von Antisemitismus an Berliner Schulen ist die Rede.
BERLIN. „Da kommt der Jude.“Das war noch eine der harmloseren Beleidigungen, die der heute 15-jährige Oskar monatelang über sich ergehen lassen musste. Nicht selten setzte es Prügel, oder er wurde im Schwitzkasten malträtiert. Oskar ging damals in eine Schule in Berlin-Friedenau, im Grunde ein bürgerliches Viertel. Attackiert wurde er von arabisch- und türkischstämmigen Mitschülern. Der Schulleiter will lange nichts bemerkt haben. Die Klassenlehrerin der Parallelklasse riet Oskars Mutter, er solle sich von ihrer Klasse fernhalten, weil er den Schulfrieden störe. An einer anderen Grundschule im Bezirk Tempelhof wurde eine Schülerin mehrmals verbal attackiert. Der Schulleiter musste sich entschuldigen, nachdem er die Vorfälle zunächst verharmlost hatte.
Berichte über antisemitische Vorfälle in Berlin sind nicht neu. Mal wurde ein Rabbiner attackiert. Dann berichteten die Medien, dass viele Juden Angst hätten, sich in der Öffentlichkeit mit ihrer Kippa zu zeigen. Eltern würden ihren Kindern raten, sich in der Schule nicht zu ihrem Glauben zu bekennen. Bei Demonstrationen wurden zuletzt israelische Fahnen verbrannt. Teilnehmer skandierten: „Juden ins Gas.“Noch schlimmer waren Auswüchse bei Fans des Fußballclubs Energie Cottbus, einer Stadt südöstlich von Berlin. Bei einem Spiel gegen den SV Babelsberg forderten sie eine „U-Bahn von Babelsberg nach Auschwitz“und riefen: „Arbeit macht frei, Babelsberg 03.“
In den Schulen ist man offenbar vom aggressiven Auftreten einiger Schüler überfordert. Familienministerin Franziska Giffey (SPD), bis vor Kurzem Bezirksbürgermeisterin im Berliner Problemviertel Neukölln, appellierte an die Schulen, alle Fälle von Antisemitismus, Rassismus und Hass zu melden. Gleichzeitig gestand sie ein: „Viele Schulen scheuen davor zurück, weil sie eine Stigmatisierung fürchten, wenn sie mit vielen Fällen in der Statistik auftauchen.“Gegenüber einer Zeitung sagte ein Berliner Lehrer, „solche Sachen wie Juden oder Israel nicht aufzugreifen“. Ein weiterer erklärte, wenn man das Judentum thematisiere, gebe es „gleich eine kleine Intifada (Aufstand) im Klassenraum. Die flippen total aus, die bleiben null sachlich.“
Schon vor Jahren hat der Bielefelder Konfliktforscher Wilhelm Heitmeyer antisemitische Einstellungen bei arabisch- und türkischstämmigen Jugendlichen untersucht. Dabei hat er festgestellt, dass es dabei weniger um Religion als um den Nahost-Konflikt geht. 44% der arabischstämmigen Jugendlichen stimmten der Aussage zu: „Bei der Politik, die Israel betreibt, kann ich gut verstehen, dass man etwas gegen Juden hat.“Bei den türkischstämmigen waren es noch 21%.
Aber laut Studien spielt auch die soziale Situation eine entscheidende Rolle. Viele muslimische Jugendliche sehen sich ungerecht behandelt, weil die deutsche Öffentlichkeit sensibel auf Antisemitismus reagiert, nicht aber auf Islamfeindlichkeit. So fragen sich muslimische Schüler, warum sie weniger wert seien. Hinzu kommt, dass Menschen mit Migrationshintergrund oft schlechtere Chancen auf dem Arbeitsmarkt haben, weil sie seltener einen Schulabschluss haben.