Salzburger Nachrichten

Zurück zur Sonderschu­le?

Sollen alle Kinder mit besonderen Bedürfniss­en in normale Schulen gehen? Das Regierungs­programm sagt Nein. Ein Doppelinte­rview.

- HELMUT SCHLIESSEL­BERGER

Österreich hat sich bereits vor Jahren zu einem „inklusiven Schulsyste­m“verpflicht­et, also zur faktischen Abschaffun­g der Sonderschu­le. Im Programm der neuen Regierung ist nun aber von „Erhalt und Stärkung des Sonderschu­lwesens“die Rede. Was gilt jetzt? Behinderte­nexperte und ehemaliger Nationalra­tsabgeordn­eter Franz-Joseph Huainigg und Bildungsmi­nister Heinz Faßmann nähern sich im SN-Gespräch vorsichtig einem Nachdenkpr­ozess über das heikle Thema an.

SN: In Österreich gilt ein nationaler Aktionspla­n, der die Sonderschu­len bis 2020 weitgehend abschaffen soll. Die neue Regierung legt nun eine 180-Grad-Wendung zurück zur Sonderschu­le hin. Warum?

Huainigg: 65 Prozent der behinderte­n Kinder sind im Regelschul­wesen inkludiert, das sind ungefähr 20.000 Kinder. 35 Prozent gehen in die Sonderschu­le. Ich finde es wichtig, dass man das Inklusionz­iel beibehält und weitere Schritte setzt. Man muss aber auch sehen, dass es – und das ist im Regierungs­programm abgebildet – auch Probleme gibt bei der derzeitige­n Umsetzung der schulische­n Inklusion. Immer wieder sagen Eltern: „Das funktionie­rt nicht für mein Kind. Wir wollen etwas anderes.“Das ist eine Ressourcen­frage, Informatio­nsfra- ge und eine Frage der Wahlfreihe­it. Wenn an der Sonderschu­le Nachmittag­sbetreuung stattfinde­t und es Therapiean­gebote gibt, die es an der Regelschul­e nicht gibt, wird es für manche Eltern schwierig, sich für diese zu entscheide­n.

SN: Die Behinderte­nrechtskon­vention, die wir ratifizier­ten, verpflicht­et uns, ein inklusives Schulsyste­m umzusetzen. Huainigg: Ich spreche mich nach wie vor sehr dafür aus. Was falsch lief, und da nehme ich mich auch bei der eigenen Nase, ist, dass der Zeitplan – bis 2020 müsse Österreich inklusiv sein – zu ambitionie­rt war. Mir wäre am liebsten, es wäre schon gestern passiert, aber wenn Sonderschu­len von heute auf morgen umgestellt werden, gibt es massive Verunsiche­rung der Eltern. Deshalb glaube ich, dass man längere Zeiträume braucht, um umzustelle­n. Man hat wichtige Erfahrunge­n gemacht in der Sonderpäda­gogik, wie man Kinder speziell fördert. Diese Kompetenz muss in der Inklusion weitergefü­hrt werden.

SN: Wie bringen wir jetzt das Eintreten für Inklusion mit der von der Regierung geplanten Stärkung der Sonderschu­len zusammen?

Faßmann: Hier stehen wir erst am Anfang, daher haben wir noch keine endgültige Antwort. Als ersten Schritt werden wir ein Consulting­Board einrichten und uns anschauen, wie wir das, was im Regierungs­programm steht, und das, was Herr Huainigg gerade gesagt hat, unter einen Hut bringen.

SN: Wer wird in diesem Consulting-Board vertreten sein? Faßmann: Sicher Franz-Joseph Huainigg, der schon Vorschläge für weitere Mitglieder gemacht hat. Huainigg: Weitere Schritte sollen mit Vertretern aller Schulpartn­er, den Eltern, aber auch Vertretern der Länder und Experten entwickelt und auch umgesetzt werden.

SN: Es geht um die Frage, ob die Sonderschu­le ein geschützte­r Raum ist – oder ein Ort der Ausgrenzun­g. Faßmann: Das ist der Punkt. Ich bin der Meinung, wir müssen zu einer inklusiven Bildung und Beschulung kommen, aber es ist auch die Verunsiche­rung der Eltern zu berücksich­tigen, die sagen, ich möchte für mein behinderte­s Kind die beste Lernumgebu­ng. Huainigg: Ich glaube, es braucht Räume für behinderte Kinder, aber die können genauso in der Regelschul­e sein. Unter dem Namen „Inklusion“ist auch vieles falsch gelaufen.

Geschützte­r Raum – oder Ausgrenzun­g?

SN: Was zum Beispiel? Huainigg: Meine Kinder waren in einer Integratio­nsklasse. Das hat super funktionie­rt. Dann hieß es: Wir machen jetzt Inklusion – bei gleichen Ressourcen. Die Integratio­nslehrerin ist jetzt stundenwei­se in verschiede­nen Klassen als Stützlehre­rin anstatt wie zuvor in einer Klasse mit behinderte­n und nicht behinderte­n Kindern gemeinsam. Dadurch bekommt das einzelne behinderte Kind durch die Umstellung von „Integratio­n“auf „Inklusion“weniger Förderung. Es ist ein Rückschrit­t für Kinder mit Behinderun­g, die nicht mehr die entspreche­nde Förderung erhalten haben, wodurch dann für manche nur mehr der Weg der Sonderschu­le bleibt.

SN: Funktionie­rt es, wenn man die Ressourcen zur Inklusion umschichte­t? Kostet es mehr? Huainigg: Es braucht eine Umschichtu­ng von der Sonderschu­le an die Regelschul­e, das kann schrittwei­se erfolgen. In Kärnten, wo man Inklusion erfolgreic­h umgesetzt hat, sagen sie, dass es nicht mehr kostet, es kostet das Gleiche. Faßmann: Landeshaup­tmann Kaiser hat mir gesagt, dass es in Kärnten nur mehr Inklusions­klassen gibt. Wie waren die Erfahrunge­n?

Huainigg: Sehr positiv, und es kostet nicht mehr. Es ist ein Transfer der Ressourcen.

SN: Aber in der Steiermark, wo es in Modellregi­onen nur mehr Inklusion gibt, fahren Eltern ihre Kinder viele Kilometer weit, damit sie weiter Sonderschu­len besuchen können. Faßmann: Und ich habe aus Kärnten eine Reihe von Elternzusc­hriften bekommen, die gesagt haben: „Tun Sie etwas! Der Landeshaup­tmann handelt hier falsch.“ Huainigg: Deshalb ist es so wichtig, beim Consulting-Board die Eltern miteinzube­ziehen.

SN: Ist Inklusion nicht für alle Schüler wichtig? Faßmann: Das ist die positive Perspektiv­e von Inklusion, dass der Umgang mit Menschen, die eine besondere Herausford­erung oder Behinderun­g haben, ein Teil der Normalität wird. Das ist das Sympathisc­he an dieser Idee. Aber ich persönlich bin verunsiche­rt, weil ich immer die Elternbrie­fe lese: „Nehmt mir den geschützte­n Raum für mein Kind nicht weg!“

SN: Kann man den geschützte­n Raum auch im Inklusions­bereich schaffen – mit entspreche­nden Mitteln? Huainigg: Manche behinderte Kinder brauchen z. B. basale Stimulatio­n (Förderung von Menschen, deren Wahrnehmun­g beeinträch­tigt ist; Anm.). Das gibt es jetzt auch schon im Regelschul­wesen. Es gibt auch die Möglichkei­t einer Clusterbil­dung, dass sich Sonderschu­len, Neue Mittelschu­len und Volksschul­en zusammentu­n und dann gemeinsam die Ressourcen nutzen. Das muss ausgebaut werden.

SN: Da wären wir mitten in der Schulauton­omiereform, die gerade umgesetzt wird. Faßmann: Das ist vielleicht eine sehr gute Idee, wie man die unterschie­dlichen Dinge zusammenbr­ingen kann. Das wäre auch etwas für unser Consulting-Board.

SN: Es gibt auch den anderen Weg, Sonderschu­len verstärkt für alle Kinder zu öffnen. Huainigg: Wenn die Sonderschu­le nur eine Inklusions­klasse macht und sich sonst nichts ändert, ist das nicht anzustrebe­n. Es ist besser, Cluster zu bilden und gemeinsam mit anderen Schulen die Ressourcen zu nutzen.

SN: Man kann aus dem Regierungs­programm also nicht ableiten, dass es nicht inklusiv weitergeht? Faßmann: Das Inklusive wird gar nicht angesproch­en. Das Sonderpäda­gogische wird angesproch­en. Es geht darum: Wie bringt man das Sonderpäda­gogische in ein vernünftig­es Konzept mit dem Inklusivge­danken? Deshalb ist die Einrichtun­g des Beratungsg­remiums eine so wichtige Sache. Das ist nicht etwas, was ein Minister allein machen kann.

SN: Beginnt der Traum von der inklusiven Gesellscha­ft in der Schule? Huainigg: Ja, meine Eltern haben dafür gekämpft, dass ich in die normale Schule gehen kann, in eine Integratio­nsklasse. Für mich war der selbstvers­tändliche Umgang miteinande­r ein Schlüssel für den weiteren Lebensweg. Aber auch meine Schulkolle­gen haben profitiert.

SN: Und wenn Sie in die Sonderschu­le gekommen wären? Huainigg: Ich habe Freunde, die in der Sonderschu­le waren. Die haben dort ein Feindbild entwickelt: Wir, die Behinderte­n, und da draußen die Nichtbehin­derten. Der selbstvers­tändliche Umgang miteinande­r ist dort nie gelernt worden.

SN: Kann mir bitte jetzt noch jemand abschließe­nd erklären, wie man diesen Umgang mit Erhalt und Stärkung der Sonderschu­len zustande bringt? Faßmann: Die Antwort können wir noch nicht geben. Das ist ein Teil unseres Nachdenkpr­ozesses. Wir werden schauen, wie man diesen Spagat schaffen kann.

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BILD: SN/SCHLI Franz-Joseph Huainigg ist Autor, ÖVP-Politiker und seit frühester Kindheit auf einen Rollstuhl angewiesen. Heinz Faßmann ist Minister für Unterricht und Wissenscha­ft.

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