„Noch nie so tief in den Abgrund einer Seele geblickt“
Fast ein Vierteljahrhundert hielt Josef F. seine Tochter in einem Keller gefangen und zeugte sieben Kinder mit ihr. Bis der Fall vor zehn Jahren publik wurde. Die SN trafen einen Ermittler, der die Kinder aus dem Verlies befreite, und die Gutachterin.
Ein 60 Quadratmeter großer Keller. Kein Tageslicht. Die Zimmerdecke maximal 1,70 Meter hoch.
Hier führte Josef F. 24 Jahre lang ein perfektes Doppelleben. Eines, für das das Wort Horror wie eine Verniedlichung klingt. „Oben“im grauen Wohnhaus in der Ybbsstraße in Amstetten war Josef F. der unauffällige Nachbar, das Familienoberhaupt, der Ehemann. „Unten“in dem 60 Quadratmeter großen Verlies wurde Josef F. zum Inbegriff des Bösen. Fast ein Viertel- jahrhundert hielt er seine Tochter Elisabeth ab ihrem 18. Lebensjahr in dem Keller unter seinem Wohnhaus gefangen, quälte, schlug, vergewaltigte und schwängerte sie. Sieben Kinder wurden in der Finsternis geboren. Eines starb nach der Geburt und wurde von Josef F. in einem Holzofen verbrannt, für drei blieb das Verlies die einzige Welt, die sie kannten. Die anderen legte Josef F. als Findelkinder von Elisabeth, die angeblich zu einer Sekte geflüchtet war, vor das Wohnhaus „oben“. Bis zum 26. April 2008. Als das älteste im Verlies lebende Kind, die 19-jährige Kerstin, schwer erkrankte, wurde sie von Josef F. ins Spital gebracht. Zum ersten Mal erblickte die 19-Jährige das Tageslicht und mit ihrem Auftauchen kam auch Licht in einen der größten Kriminalfälle Österreichs.
„Unsere ersten Berührungspunkte waren, dass ein schwer erkranktes Kind im Krankenhaus aufgetaucht ist. Aber zu diesem Zeitpunkt hätte niemand damit gerechnet, dass das Ganze zu einem Kriminalfall wird“, erinnert sich Omar Haijawi-Pirchner, Leiter des Landeskriminalamts (LKA) Niederösterreich zurück.
Der 38-Jährige sitzt in seinem Büro in St. Pölten. Der Blick aus dem Fenster fällt auf weite Felder, der Blick in die Vergangenheit auf eine Zeit, als Haijawi als jüngster Mordermittler zu jenen Beamten gehörte, die als erste das Verlies von Josef F. betraten und die darin lebenden Kinder befreiten.
„Es war ein Wahnsinn. Im Keller hat scheinbar jede Luft zum Atmen gefehlt, weil die Raumhöhe so niedrig war“, erinnert sich Haijawi-Pirchner. Die Antwort auf die Frage, wie er die Befreiung der Kinder aus ihrem Verlies erlebte, lässt auf sich warten: „Das waren sehr emotionale Momente für uns, weil man gemerkt hat, dass die Kinder null Kontakt zur Außenwelt hatten. Man kann sich nicht vorstellen, dass es Kinder gibt, die die Welt, so wie wir sie erleben, nur aus dem Fernseher kennen. Da ist ein Kind, das völlig hilflos in der realen Welt steht.“
Heute leben die Kinder gemeinsam mit ihrer Mutter und neuen Identitäten an einem geheimen Ort. Das Haus in der Ybbsstraße wurde verkauft, der Keller im Jahr 2013 zubetoniert.
F. selbst wurde 2009 wegen Mordes durch Unterlassung, Sklavenhandels, Freiheitsentziehung, Vergewaltigung, Blutschande und schwerer Nötigung zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt. Er befindet sich in der Justizanstalt Stein, einer Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher.
Maßgeblich für diese Entscheidung war auch das Gutachten von Psychiaterin Adelheid Kastner. In sechs Gesprächen mit Josef F. kam Kastner zu dem Schluss, dass F. „voll zurechnungsfähig“sei. „Ich habe Josef F. damals als kooperativ erlebt, er war rational reflektiert, kein unintelligenter Mensch. Er hat gewusst, was er macht und dass das, was er gemacht hat, nicht rechtens war“, erinnert sich Kastner im SN-Gespräch.
Die Frage, auch zehn Jahre nach dem Verbrechen, bleibt: Wie war es F. möglich, 24 Jahre lang mit dieser „Schuld“zu leben? „Indem er eine sehr ausgeprägte Fähigkeit besaß, unterschiedliche Bereiche klar voneinander zu trennen. Er hatte die Fähigkeit, nicht an das Leben im Keller zu denken, wenn er heroben war. Es war dieses NichtWahrnehmen, wenn er nicht unmittelbar mit der Situation konfrontiert war“, erklärt die Primarärztin der Klinik für
Doppelleben im „Oben“und „Unten“ Kinder kannten Welt nur aus Fernseher
Psychiatrie mit forensischem Schwerpunkt am Kepler-Universitätsklinikum Linz.
Denkt LKA-Chef HaijawiPirchner an Josef F. zurück, ist es ein Wort, das fällt: „kalt“. Und ein Zitat des damals zuständigen Chefinspektors Leopold Etz: „Etz hat gesagt: ,Ich habe schon in viele Abgründe der Seele geschaut, aber so tief wie in diesem Fall noch nie.‘ Genau so war es. Jedes Mal, wenn ich diesen Satz sage, läuft es mir kalt den Rücken hinunter“, sagt Haijawi-Pirchner.
Für Kastner war das Verbrechen im Rückblick der „herausragendste Fall“ihrer beruflichen Laufbahn. „Nicht wegen des Delikts an sich, sondern weil die schiere Dauer so enorm hervorstach.“Zu diesem Schluss kommt auch LKA-Chef Haijawi-Pirchner: „Man muss sich vorstellen, 24 Lebensjahre in diesem Verlies zu leben. 24 Jahre und nicht zwei Monate. Ich glaube, das ist eine Dimension, die jede Vorstellungskraft übersteigt. Jeder, der auch nur kurz in diesem Verlies war, hatte ein totales Beklemmungsgefühl. Geschweige denn, wenn man dort unten 24 Jahre lang leben musste.“
Und noch eine andere Erinnerung ist es, die Kastner und Haijawi-Pirchner miteinander teilen: das gewaltige mediale Interesse weltweit. „Die Straße vor dem Haus war voll mit Übertragungswagen. Da gab es etwa ein Fernsehteam aus Brasilien, das extra wegen des Falls F. angereist ist, um live im brasilianischen Fernsehen berichten zu können“, erzählt der LKA-Chef.
Einer, der vor zehn Jahren Teil dieser internationalen Medienkarawane war, ist der britische Reporter Greg Mi- lam. „Ich habe nie zuvor und auch danach nicht mehr über so ein schreckliches Ereignis berichtet. Bei jedem neuen Detail, das bekannt wurde, dachte man: Okay, jetzt kann es nicht mehr schlimmer werden, doch genau das Gegenteil war der Fall“, erinnert sich Milam, der heute als Amerika-Korrespondent für den britischen 24-StundenNachrichtensender Sky News arbeitet. Gemeint sind Details wie Videos, die F. im Thailand-Urlaub zeigten, während seine Familie im Keller litt, oder der Prozess, in dem F. ein völlig überraschendes Schuldeingeständnis ablegte.
Milam, der bereits für den Fall Kampusch in Österreich war und später auch über mehrere ähnliche Fälle in Amerika mit verschwundenen und missbrauchten Kindern berichten sollte, will keinen Vergleich zwischen den Verbrechen ziehen: „Jeder Fall ist schrecklich, aber jeder ist auch anders. Die Frage, die sich mir manchmal stellt, ist: Wie viele vermisste Personen gibt es noch da draußen, die vielleicht von irgendjemandem gefangen gehalten werden, Schreckliches erleben und auf ihre Befreiung warten?“, sagt Milam.
Wie es war, auf der anderen Seite zu sitzen – im ständigen Fokus der Journalisten –, daran kann sich Psychiaterin Kastner wiederum gut erinnern. „Das macht etwas mit einem. Ich weiß noch, dass ich für einen Kongress in Washington war und um drei Uhr früh einen Anruf von deutschen Medien erhalten habe. Ich habe geantwortet, dass ich keine Stellungnahme abgebe und zudem in Amerika bin. Die Antwort war: Dann kommen wir eben nach Amerika. In dieser Situation lernt man sehr viel über sich selbst.“
Was sie der Fall F. und das Verfahren generell gelehrt haben? „Sehr vieles“, sagt Psychiaterin Kastner. „Etwa, dass es Dinge gibt, die die eigene Vorstellungskraft übersteigen.“Und nach einer Pause: „Man sieht, was man weiß. Und was man sich nicht vorstellen kann, weiß man nicht.“