Mit solchen Händen Chopin spielen
„Moving Pictures“ist das Motto des Salzburger „Aspekte“-Festivals. Dabei wird eine neue, große Stummfilmmusik von Johannes Kalitzke uraufgeführt. Für „Orlacs Hände“von Robert Wiene stand ein Klavieridol musikalisch Pate.
Es begann mit dem Auftrag für eine Oper. Johannes Kalitzke sollte für Augsburg „Die Weber“nach Gerhart Hauptmann vertonen. Nachdem ihm das unmöglich war, stieß er in der Murnau-Stiftung auf Friedrich Zelniks Stummfilmversion von 1927. Die erste Filmpartitur entstand. Es folgten „Schatten“von Arthur Robison (1923) und „Orlacs Hände“, die horroreske Geschichte eines Pianisten, dem die Hände eines Hingerichteten angenäht werden (1924). Die Uraufführung durch das Stuttgarter Kammerorchester unter der Leitung des Komponisten krönt das Salzburger „Aspekte“Festival zum Thema „Moving Pictures“. Über Stummfilm und Musik heute sprachen wir mit Johannes Kalitzke. SN: Was sind Reiz und Herausforderung, neue Musik für Stummfilme zu komponieren? Johannes Kalitzke: Ich betrachte den Stummfilm als Bindeglied zweier Kunstgattungen, der bildenden und der darstellenden Kunst. So war er einst auch gemeint: als Kunstform, die nicht kommerziell orientiert war, sondern als Gattung, die der Bilderwelt und dem Theater viel näher stand als der Unterhaltung. Für mich ist also für Stummfilm zu schreiben ähnlich, wie wenn ich eine Oper komponiere. SN: Wie hat man sich den Entstehungsprozess für eine Filmpartitur vorzustellen? Es gibt eine einzige Bedingung: Die Länge des Films, seine Dramaturgie erzwingt die formale Gestaltung durch die vorgegebenen Dauern. Man macht sich also zunächst einmal eine Tabelle, in die man einträgt, was wann passiert, wie lange die Szene dauert, und das versucht man mit den eigenen musikalischen Proportionen, die man zu komponieren gewöhnt ist, in Einklang zu bringen. Der Film erfordert Lösungsansätze, die man, wenn man eine Oper schreibt, nie wagen würde. Ein Beispiel: Bei den „Webern“von Friedrich Zelnik gibt es Massenszenen, die stark der Ästhetik der Arbeiterkultur verpflichtet sind. Wenn man sich den Film anschaut, liegt es nahe, sich musikalisch mit Hanns Eisler und Kurt Weill zu beschäftigen. Man muss also die vorgegebene Ästhetik in die eigene Sprache miteinbeziehen, weil es die Sprache des Films erzwingt.
Auch in den „Schatten“(die kürzlich in Salzburg zu sehen waren, Anm.) fordert das chinesische Schattenspiel im Film eine Zitierung gewisser Klangbilder, die dem fernöstlichen Kolorit entsprechen. So nutzte ich etwa ein präpariertes Klavier. Ich habe dadurch immer wieder festgestellt, dass durch Filmmusik auch eine Erweiterung meines eigenen kompositorischen Spektrums entstehen kann. SN: Man sollte aber nicht illustrativ denken? Das ist der Kernpunkt und insofern spannend: Wenn man anfängt, ein Konzept zu machen, dann ist die erste Frage: Was illustriere ich? Und wo versuche ich, die Musik so distanziert zum Film weiterzuführen, dass sie ein Eigenleben bekommt? Wenn das passiert, wenn es manchmal auch dem Film vielleicht widerspricht, dann wird die Musik als eigene Ebene wahrgenommen. Wenn sie nur unterstützt, dann verschwindet sie im visuellen Wahrnehmungsbereich und verdoppelt nur, was man ohnehin sieht. SN: Also hat man als Komponist durchaus das Privileg, einen ästhetischen Freiraum zu genießen? Den nimmt man sich. Jede Filmmusik muss freilich einen eigenen Stil haben. Je nach Besetzung ist man auf eine bestimmte Klangebene eingeschworen, die man dann auch durchhält. Die Besetzung stellt auch eine bestimmte Klangpalette zur Verfügung, mit der man die Komposition baut.
In „Orlacs Hände“spielt Chopin eine wichtige Rolle, und so nehme ich auf die Ästhetik von Chopin Bezug, aber nicht kopierend, sondern im Sinn einer Anverwandlung hin auf die eigene Sprache. SN: Was muss ein Film haben, damit er Sie anspricht? Ich könnte wohl mit dokumentarischem Material nicht so gut umgehen. Da muss man eher zu illustrativen Mitteln greifen. Was mir liegt, ist eine gewisse Abgründigkeit. In „Orlacs Hände“zum Beispiel hat man es mit einer Atmosphäre zu tun, die fast unwirklich erscheint. Es gibt in diesem Film keinen einzigen Raum, den man wirklich bewohnen möchte. Der Film ist so gebaut, dass man das Gefühl hat, dahinter lauere etwas Unheimliches, Bedrohendes, das man nicht sieht. Wenn also ein Film zeigt, dass unter der Oberfläche etwas anderes steckt, dann fängt der Prozess an, aus dem für mich Musik entstehen kann. SN: Muss man Musik für Stummfilme in erster Linie filmisch denken? Die Frage, wie lange eine Szene ist, ob ich sie dehne oder komprimiere, ist zuerst einmal eine musikalische Frage, der sich die Szene unterwirft. Man kann, was wir bei „Orlacs Hände“gemacht haben, die Geschwindigkeit des Films verändern. Wir haben konkret nach der elften Minute angefangen, den Film um zehn Prozent zu beschleunigen. Das bringt enorm viel an Stringenz, die man braucht, um vorwärtszukommen, auch beim Komponieren. Aber ich denke eigentlich nicht in dem Sinne filmisch.
Ich schaue mir einen Film ein bis zwei Mal an, dann komponiere ich ein halbes Jahr aus dem Gedächtnis. Ich klebe also nicht am Film und arbeite Szene für Szene. Ich notiere mir die Charakteristik der Szenerie zusammen mit den Dauern und Proportionen zwischen Szenenwechseln, die vorgegeben sind, und dann versuche ich zu großen Teilen, mich als Komponist unabhängig zu bewegen. Und ich komponiere nur Filme, zu denen es keine Originalmusik gibt. Klassiker wie „Nosferatu“oder „Metropolis“könnte ich gar nicht neu komponieren. SN: Eine suggestive Frage: Lieber Film oder lieber Oper? Ich bin kein Freund von Monokulturen. Es kommt also schon ein Akzent wieder auf Oper. Denn es gibt auch den Moment, in dem man anfängt, routiniert zu arbeiten. Und das ist immer gefährlich.
„Was mir liegt, sind gewisse Abgründe.“
Das Festival „Aspekte“von 25. bis 29. April in Salzburg widmet sich dem Thema „Moving Pictures“. Zu sehen sind „An Index of Metals“von Fausto Romitelli (25. 4.), „Different Trains“von Steve Reich (26. 4.), die Uraufführung „Orlacs Hände“von Johannes Kalitzke (28. 4.) und „frozen gesture“von NAMES/Conny Zenk (29. 4.). Am 27. 4. gibt es zum 70. Geburtstag von Herbert Grassl ein Porträtkonzert. In Clubatmosphäre feiert der Pianist Marino Formenti Olga Neuwirth mit einem Klavierrecital-Mix (25. 4.). Das gesamte Programm unter WWW.ASPEKTE-SALZBURG.AT