Mauern zerlegen die Welt gewaltig
Ohne dass wir’s merken, tyrannisieren uns Parkbänke oder Grenzen. Jetzt gibt’s dazu aber eindeutige Aufzeichnungen.
SALZBURG, FLACHAU. Wie bricht man aus einem Gefängnis aus? Und wie überwindet man Grenzbarrieren? Und warum soll man auf einer Parkbank nur sitzen? Diese Fragen sind nicht nur gesellschaftspolitisch gemeint, sondern auch ganz praktisch. Theo Deutinger, Architekt aus Flachau mit einem Büro auch in Amsterdam, hat die räumlichen Formen der Tyrannei und Unterdrückung – Grenzzäune, Gefängnisse, Todeszellen oder Schlachthöfe – gesammelt als Grafiken für sein Buch „Handbook of Tyranny“. Es sind Schnappschüsse der Globalisierung, die – angelegt wie andere Lehrbücher der Geometrie – in ihrer Gesamtheit eine Maschinerie der Repression dokumentieren.
SN:
Herr Deutinger, worum geht es in Ihrem „Handbook of Tyranny“?
Deutinger: Die drei Grundpfeiler des Buches sind das Verhältnis von Raum, Technik und Mensch. Das Buch zeigt in zwölf Kapiteln, wie Technik in der Form von – architektonischen – Entwürfen eingesetzt wird, den Raum und die darin lebenden Menschen zu beherrschen.
SN: Was ist dabei unter „Tyranny“zu verstehen?
Tyrannei ist das „Beherrschtwerden“. Wir werden allerdings nie direkt von einem Tyrannen angesprochen, der uns zu einem gewissen Verhalten zwingt, sondern es passiert viel subtiler. Es passiert in uns etwas durch Raumentwürfe, die uns ein gewisses Verhalten abverlangen. Eine Parkbank, die in der Mitte durch eine Handlehne geteilt ist, verlangt uns ab, auf ihr zu sitzen und nicht zu liegen. Es geht also um Möglichkeiten des Verhinderns. Das mögliche Liegen auf einer Bank wird verhindert. Der diskutierte Einsatz einer berittenen Polizei in Österreich richtet sich etwa ganz konkret gegen die Möglichkeit von Ausschreitungen bei Demonstrationen. Mit Pferden behält man die Übersicht bei Massenaufläufen, das Pferd als solches ist abschreckend. Es gibt keinen anderen Einsatzzweck für berittene Polizisten.
SN: Wie kamen Sie denn auf die Idee zu diesem Buch?
Ich beschäftige mich mit meinem Büro seit etwa zwölf Jahren mit den räumlichen Auswirkungen der Globalisierung auf verschiedenen Maßstabsebenen. Dabei bin ich einerseits fasziniert von der Wiedervereinigung der Menschheit, von den positiven Auswirkungen der Globalisierung, andererseits schockieren mich die Gegenmaßnahmen; die Angst vor der Zukunft. Das Buch ist langsam, Thema für Thema entstanden. Wir haben in den vergangenen fünf Jahren kontinuierlich darauf hingearbeitet.
SN: Woher bekamen Sie die Informationen für das Buch?
Der Großteil der Informationen kommt von den Herstellern selbst. Die Grenzzäune zwischen Ländern sind sehr gut von den Ländern selbst oder Journalisten vor Ort dokumentiert. Bei Entwürfen wie der erwähnten Parkbank kommt die Information direkt von den Herstellern und Händlern, bei denen Kommunen Straßenmöbel einkaufen.
SN: Ihr Buch könnte eine Vorlage zum Bau von Schlachthäusern, Grenzzäunen und Folterkammern sein. Das ist aber wohl nicht die Intention. Ist das Buch also als Kritik an solchen Orten zu verstehen?
Bevor wir Dinge verändern können, müssen wir verstehen, wie sie funktionieren. So ist dieses Buch zu sehen. Es ist der Versuch, die Raumentwürfe der Gegenwart zu verstehen. Nun können wir daran gehen, die Zukunft anders, freier zu gestalten.
SN:
Sie schreiben, die Welt sei in zwei „legal zones“eingeteilt. Was heißt das?
Diese Passage bezieht sich auf die beiden weltweit praktizierten Gesetzesvorlagen, durch Geburt die Staatsbürgerschaft zu erwerben. Das „Zur-Welt-Kommen“ist auch ein „Zur-Nation-Kommen“. Also man wird Teil eines Territoriums. Die Welt teilt sich hier in die zwei Prinzipien: „Jus soli“und „Jus sanguinis“. In Ländern, die nach dem „Jus soli“vorgehen, wird man in die Heimaterde hineingeboren. Also wer immer innerhalb des Staatsgebiets geboren ist, wird durch den Geburtsakt Bürgerin oder Bürger dieses Staates. Österreich praktiziert das „Jus sanguinis“. Hier werden Kinder in den Schoß der Eltern, vor allem aber der Mutter geboren.
SN: Welche Folgen hat denn diese Einteilung?
Für den persönlichen Lebensraum macht es den Unterschied, dass, wenn man in den österreichischen Mutterschoß geboren wird, einem die Türen zu 156 Ländern offen stehen; ist der Mutterschoß aber ein afghanischer, so kann man in nur 22 Länder ohne Visum reisen. Man betritt also mit der Geburt einen extrem ungleich großen Lebensraum. Eine dritte Option ist eine Staatenlosigkeit, die einem jegliches Recht auf Raum abspricht, denn es gibt außer den internationalen Territorien in der Antarktis und den internationalen Gewässern kein Gebiet für diese Menschen.
SN:
Wie sehr verändern multinationale Konzerne oder eine bis in den letzten Winkel der Welt funktionierende Social-Media-Kommunikation die Idee, was ein „Territorium“oder eine „Grenze“ist?
Früher musste ein Tyrann ganz offen seinen Willen zur Gewalt zeigen. Daher ist viel Blut geflossen. Das war nicht das Ziel des Tyrannen, sondern ein Mittel, um die Kontrolle zu bewahren, um zu herrschen. Heute kann man viel versteckter und unblutiger herrschen.
SN: Wie geht das?
Die Möglichkeit von multinationalen Konzernen und Social-MediaRiesen, uns zu kontrollieren und Einfluss zu nehmen, sind enorm und in der Tat grenzenlos. Einige im „Handbook of Tyranny“gezeigte Beispiele könnten als versuchte Opposition zu diesem Phänomen gelten, wie zum Beispiel der weltweit grassierende Mauerbau-Hype. Die physische Mauer ist die komplett falsche und eine völlig unwirksame Antwort und muss vielmehr als symbolischer Akt verstanden werden. Die neuen, die virtuellen Territorien aufzuzeigen wäre eine schöne Aufgabe für das nächste Buch.
SN: Üblicherweise gibt es Tabellen und Listen der Dinge, die Sie in Ihrem Buch aufgreifen. Was fasziniert Sie an der grafischen Umsetzung?
Ich will Dinge sehen und Sehen ist für mich Verstehen. Wenn ich sehe, wie der Grenzzaun zwischen Slowenien und Österreich aussieht, verstehe ich seine Konstruktion und seine (Un-)Wirksamkeit. Ich bin sicher, dass jeder gute Gefängnisausbrecher damit beginnt, einen Plan des Gefängnisses zu zeichnen, um sich zu orientieren und um den Kontext, in dem er sich befindet, zu verstehen. Erst dann kann er darin seine Fluchtroute eintragen.
SN: Wo lernt man Ihre Art der grafischen Umsetzung?
Für mich ist diese Herangehensweise eine typisch architektonische. Alle Zeichnungen sind reduziert auf das Wesentliche und unmissverständlich. Das ist auch bei Bauplänen essenziell. Man will verhindern, dass auf der Baustelle diskutiert werden muss, wie der Architekt das gemeint hat. Außerdem hat sich die Verantwortung der Architektur ausgeweitet, indem nicht nur für das Objekt selbst, sondern auch für den Kontext, in dem er plant, Verantwortung übernommen werden muss. Eine gründliche Analyse des Umfelds ist deswegen notwendig, aber auch unglaublich interessant. Das Zeichnen und Interpretieren des Großraums hilft dabei. Versteht man den Kontext, kann man mit einem Gebäude sehr viel mehr für die Allgemeinheit beitragen.
Gespräch/Ausstellung:
Theo Deutinger wird heute, Freitag, im Rahmen der Ausstellung zu seinem Buch über seine Ideen und Arbeit reden. Initiative Architektur Salzburg (Künstlerhaus, 19 Uhr).
„Früher floss für Tyrannen viel Blut.“ Theo Deutinger, Architekt