„Dieser Ort ist wie ein Spiegel“
Ein Schweizer Regisseur hat erst die Keller erkundet, bevor er im Erdgeschoß mit dem Theaterspielen begonnen hat.
„Dieser Ort ist wie ein Spiegel, er macht etwas mit einem“, sagt Frederic Lion, Leiter des Theaters Nestroyhof, genannt Hamakom. „Selbst abgebrühten Rationalisten dringt seine Geschichte unter die Haut, sie spüren die Dibbuks (Seelen der Toten, Anm.), und solange sie sprechen, muss man ihnen zuhören.“Der Schweizer Regisseur hat zuerst den Keller entdeckt, als er vor vielen Jahren einen Schauplatz für ein Projekt suchte. Damals jedoch befand sich im Nestroyhof ein Supermarkt.
2009 eröffnete Frederic Lion das, was hier einmal über hundert Jahre lang gewesen ist: ein Zentrum jüdischen Theaters. Da er den Spielort nicht nur auf die Fortsetzung dieser Tradition eingrenzen wollte, fügte er dem Nestroyhof die hebräische Bezeichnung „ha makom“(„der Ort“) bei. „Es geht mir darum, Grenzzustände zu beleuchten, unbequeme Fragen zu stellen und nicht ,politically correct‘ sein zu müssen“, sagt Lion. „Gute zeitgeschichtliche Verarbeitung muss mit Grenzen und deren Überschreitung arbeiten, alles andere wäre ein langweiliger Zustand.“Auch renovierte er die Jugendstil-Räume nicht in ihren Originalzustand zurück, sondern ließ Spuren der wechselnden Nutzung des Theaters bestehen.
Das Hamakom zeichnet sich durch politisches, anspruchsvolles Programm aus, mit informativen Zusatzveranstaltungen – zuletzt zum Beispiel zum Thema Dschihadismus. Neben Frederic Lion, der als Regisseur unter anderem am Volkstheater Wien inszenierte, in Tel Aviv einen Lehrauftrag hatte und mit seiner freien Theatergruppe Transit international gastierte, arbeiten hier Regisseure wie Michael Gruner oder derzeit Karl Baratta. Seit einem Jahr steht Lion die österreichische Schauspielerin und Regisseurin Ingrid Lang als Künstlerische Co-Leiterin zur Seite. Weil dieses Theater auch einmal Vergnügungsetablissement war, erfand sie mit Lion das Musik- und Performance-Format „Sam’s Bar“. „Ich bin ein politischer Mensch geworden, seit ich hier arbeite; es ist mir wichtig, das Publikum mit dem Programm intellektuell und formal herauszufordern“, sagt Ingrid Lang. Der Nestroyhof wurde 1898 erbaut, mitten im zweiten Wiener Gemeindebezirk, damals auch „Mazzesinsel“genannt. Zuerst war hier am Nestroyplatz 1 ein Vergnügungsetablissement samt Wirtshaus und Bierhalle. 1905 standen Karl Kraus, Frank Wedekind, Adele Sandrock und Egon Friedell auf der Bühne. Im Keller befand sich eine angesagte Nachtbar. Ab 1927 waren die „Jüdischen Künstlerspiele“unter der prächtigen Stuckgalerie und der Glasdecke beheimatet. „Hier war ein wichtiges Zentrum des jüdischen Zwischenkriegstheaters“, schildert Frederic Lion. „Die Künstler haben sich mit ihrer Entrechtung und Identität auseinandergesetzt und waren hochpolitisch.“
1938 wurden die „Jüdischen Künstlerspiele“geschlossen, arisiert und an die Industriellenfamilie Polsterer übergeben, die bis heute Eigentümer des Gebäudes ist, nachdem sie sich in einem Restitutionsverfahren mit den Erben der letzten Besitzerin Anna Stein geeinigt hat. Nach Kino und Supermärkten wurde der Theatersaal von 1997 bis 2007 für kulturelle Zwecke genutzt, bevor es als Theater Nestroyhof/Hamakom in seine frühere Bestimmung zurückgeführt wurde.
Seit 25. April wird „badluck reloaded“gespielt. Es ist der dritte Teil eines Theaterprojekts von Regisseur Karl Baratta und der Schauspielerin Natascha Soufi – nach einer Performance des National Theatre of Iraq. In den ersten beiden Teilen „badluck“und „badluck aleppo“berichteten Asylsuchende über Lebensbedingungen in ihrer Heimat, auch nachdem sie bereits in Österreich lebten und die Medien aufgehört hatten, über Geschehnisse in Alep- po zu berichten. In der neuen Produktion „badluck reloaded“liegt der Fokus auf Schauspielern aus dem Iran, dem Irak, Syrien, Afghanistan, Luxemburg. Es geht um Geschichten über Flucht – welches Ereignis etwa Auslöser für einen Menschen ist, die Heimat zu verlassen.
Frederic Lion, der sich als „immer Suchenden“bezeichnet, empfindet Verantwortung dem historischen Ort gegenüber und möchte, dass dieses Theater „irreversibel bleibt“. Für die kommende Saison plant Lion, das Stück „Falsch“von René Kalisky über jüdische Schicksale zu inszenieren. Das Format „Sam’s Bar“wird sich dem „Dybuk“widmen, einem Schlüsselwerk der jüdischen Dramatik. Und ein Schwerpunkt wird Albert Drach gewidmet. Ingrid Lang setzt dessen Stück „Das Kasperlspiel vom Meister Siebentot“, eine zynische Anspielung auf den Aufstieg Hitlers, in Szene. „Der Autor beschäftigt sich mit Populismus, gerade jetzt ist es wichtig, in Wien ein politisches Bewusstsein zu schaffen, sonst finden vielleicht bald nur noch steirische Tänze im Theater Nestroyhof statt“, sagt Lion mit feinem Lächeln.
„Ich bin hier politisch geworden.“Ingrid Lang, Künstlerische Leiterin „Den Dibbuks muss man zuhören.“Frederic Lion, Künstlerischer Leiter
Theater: „badluck reloaded“, Schauspieler und Schauspielerinnen aus Syrien, Afghanistan, dem Iran und dem Irak spielen Szenen aus ihrer Umwelt, Regie: Karl Baratta, Nestroyhof/Hamakom, Wien, bis 29. Mai.