„Ich will weiter ein aufregendes Leben“
Helga Rohra (65) ist für viele Demenzkranke zum Rettungsanker geworden. In ihren Vorträgen spricht sie offen über den Umgang mit der Krankheit. Ihre eigene Diagnose erhielt sie vor zehn Jahren.
Pause zwischen zwei Vorträgen. Helga Rohra hat ein bisschen Zeit. Nein, nicht zum Ausruhen. Zeit für ein Gespräch mit den SN. Das Tempo gibt sie vor. „Na, dann los, stellen Sie ihre Fragen.“Die Hände umklammern den Kaffeebecher, der Blick ist fordernd. Als wolle sie sagen: „Jetzt machen Sie schon, was wollen Sie wissen?“Okay, eine Frage – mehr sind ohnehin nicht nötig: Was ist bis zum heutigen Tag alles passiert? Die 65-Jährige lacht kurz auf und hebt entschuldigend die Arme. „Wo soll ich anfangen?“Helga Rohra hat viel erlebt. Um nicht zu sagen: durchgemacht. Als sich die Wogen des Lebens endlich zu glätten begannen, erhielt sie die Diagnose: Demenz. Exakt zehn Jahre ist das nun her. Verzweiflung? Resignation? Vereinsamung? Für solche Begriffe hat das Energiebündel nur ein mitleidiges Lächeln übrig.
„Was kann ich tun?“Das war der erste Impuls, der Rohra, damals 55, durchfuhr, als ihr der Arzt mitteilte, dass sie an Demenz leide. Obwohl: leiden. Auch so ein Wort, das die Dolmetscherin und Unternehmerin gar nicht auf der Rechnung hat. Helga Rohra verdrängt ihre Krankheit nicht. Sie attackiert sie. Mit positivem Lebensstil, mit Aktivität, Sport, gesunder Ernährung, geistigem Fitnessprogramm und jeder Menge Reisen. Als „Demenzaktivistin“ist sie unterwegs, hält Vorträge und will ihren Zuhörern vor allem eines mit auf den Weg geben: Mut. Für Jammerer hat sie kein Verständnis. „Ich entlasse niemanden aus der Eigenverantwortung.“
Man müsse offen sein und darüber sprechen. Man dürfe sich nicht schämen. Denn die Verläufe der Krankheit sind vielfältig. Mal geht es langsam, mal rasant bergab. Nicht nur das Denkvermögen, auch das Sprechvermögen löst sich auf. Auch dafür hat die 65-Jährige eine Empfehlung parat: „Es kommen Phasen, wo nichts mehr geht, kein Reden, kein Schreiben. Deshalb soll man den Mut aufbringen, alles zu besprechen und zu regeln, wenn man es noch kann.“Auch sie habe bessere und schlechtere Tage. Routine sei wichtig, wiederkehrende Abläufe, die als Wegweiser dienen.
Sich selbst würde sie als „tough“bezeichnen. Übersetzt ergibt der englische Begriff eine Mischung aus hart, diszipliniert, zielstrebig. Mit ihrer Demenz geht sie ebenso um; fordert sie, wirbelt sie herum, lässt ihr keine Ruhe. „Zu meinem Sohn habe ich gesagt: Jens, wenn ich dich nicht mehr erkenne, dann ab mit mir ins Heim. Obwohl – ein Bauernhof wäre mir eigentlich lieber.“
Jens. Der heute 30-Jährige ist so etwas wie die Ergänzung ihres Ichs. Ihn schlicht als Sohn zu bezeichnen, käme einer Unverschämtheit gleich. 1988 kam er zur Welt. Sensibel und zerbrechlich von Anfang an, stellte man bei ihm bereits im Kleinkindalter das Asperger-Syndrom fest, eine Variante des Autismus. Kurz darauf verließ der Ehemann die Familie. Helga Rohra war plötzlich Alleinerzieherin und Alleinernährerin. Denn aus dem gemeinsamen Haus zog sie aus. Von nun an widmete sie Jens so viel Zeit wie nur möglich. Und auch damals galt: Selbstmitleid verboten. Die Empfehlung, ihn in die Sonderschule zu stecken, nahm sie nicht an. Blick: nach vorn. Das hieß: Sprachtherapie, Ergotherapie, Gruppentherapie. Sport, erinnert sie sich heute, machte ihm Spaß. Also Sport. Auf Rohra-Art: Wenn schon, dann mit aller Konsequenz – und gemeinsam. Fechten, Tennis, Turnen, Biathlon, Leichtathletik. Zuletzt sogar Eishockey. „Alle haben gemeint, das wäre nichts für diesen kleinen Buben. Da habe ich dem besten Spieler des Vereins, einem Kanadier, ein Angebot gemacht: Ich bringe dir Deutsch bei und alles, was du brauchst, um dich bei uns zurechtzufinden. Und du meinem Sohn Eishockey.“Bald danach flitzte Jens über das Eis.
Dazu muss man wissen: Diese „Toughness“bekam Helga Rohra als Kind quasi eingeimpft. 1953 in Hermannstadt, dem heutigen Sibiu in Siebenbürgen (Rumänien) geboren, wuchs das Mädchen in ärmlichen Verhältnissen auf. Großgezogen von der Großmutter, die noch als Magd bei der „Herrschaft“diente. „Sie hat immer zu mir gesagt: Dass man etwas nicht schafft, gibt’s ja gar nicht. Dieser Spruch begleitet mich bis heute.“
1972 verließ Rohra Siebenbürgen und ging nach München. Sie wollte studieren. Mit Gelegenheitsarbeiten hielt sie sich über Wasser. Bis sie durch Zufall zum Kindermädchen wurde – bei Familie Langenscheidt. Der Teenager erlebte, was es bedeutet, wenn Geld keine Rolle spielt und dennoch Eltern für ihre Kinder nicht da sind.
Rohra entpuppte sich als talentierte Netzwerkerin, knüpfte Kontakte. Sie gründete nach Abschluss ihres Sprachenstudiums ein Dolmetschinstitut. Vor allem Bürger aus der ehemaligen DDR lernten bei ihr Englisch. Um sie alle in ihr Institut zu karren, gründete sie gleich ein Busunternehmen. Dass sie die meiste Zeit auf sich allein gestellt war, konnte ihr nichts anhaben. Mittlerweile sieht sie das als Vorteil. „So kann ich für meinen Partner nicht zur Belastung werden.“
Auch diesen – nicht einfachen – Bereich thematisiert Rohra in ihren Vorträgen. Das Spannungsfeld zwischen Betreuern und Betreuten, wo die Grenzen zwischen Selbstaufgabe und einem Rest von Egoismus zerfließen. Eines ist für die 65Jährige ganz klar: „Demenz kann kommen, egal wer man ist und was man tut. Und ich darf mich nie auf einen Arzt oder ein Präparat verlassen.“
Österreich bezeichnet Helga Rohra als „Demenz-Entwicklungsland“. Das beginne bei (nicht vorhandener) demenzfreundlicher Infrastruktur und ende beim eklatanten Mangel im Bereich psychosozialer Betreuung. „Demenz gehört zu uns wie Heuschnupfen.“Hierzulande gibt es rund 130.000 Menschen mit Demenz. Tendenz: deutlich steigend. Deshalb wäre es höchst an der Zeit, sich mit dieser Krankheit intensiver als bisher auseinanderzusetzen. Bis es soweit ist, gibt es für die „Demenzaktivistin“noch jede Menge zu tun. „Ich hatte ein aufregendes Leben – und das will ich weiterhin haben“, sagt Helga Rohra. Als würde sie tatsächlich nur niesen. Und nicht Stück für Stück ihres Lebens vergessen.
Information und Austausch für Betroffene bietet in Wien die unterstützte Selbsthilfegruppe „Promenz“, WWW.PROMENZ.AT, 0664/421 61 71.