Sexualmorde rütteln Indien auf
Die Vergewaltigung und die Ermordung eines achtjährigen Mädchens lösten heftige Proteste aus, die Regierung handelte. Ihr wird aber vorgeworfen, bei bestimmten Opfern wegzuschauen.
NEU-DELHI. Manche sehen das Verbrechen an einer Achtjährigen als zweiten Weckruf, wenn es um Indiens Problem mit sexueller Gewalt geht. Den ersten hatte es im Jahr 2012 gegeben: Proteste nach der tödlichen Gruppenvergewaltigung einer Studentin in einem Bus in Neu-Delhi hatten zu schärferen Gesetzen geführt. Ähnlich ist es im Fall der Achtjährigen in der HimalayaRegion Jammu abgelaufen.
Das Mädchen war entführt, tagelang in einem Tempel von mehreren Männern vergewaltigt und dann ermordet worden. Tausende Menschen gingen in den vergangenen Wochen in mehreren Städten auf die Straße und verlangten Gerechtigkeit. „Erhängt die Täter“und „Tod den Vergewaltigern“stand auf einigen Schildern.
Kurz darauf beschloss Indiens Regierung, die Vergewaltigung von Mädchen unter zwölf Jahren unter Todesstrafe zu stellen. Dasselbe Höchstmaß gilt seit dem Fall in der Hauptstadt auch für Vergewaltigung mit Todesfolge. Das hat jedoch wenig an der traurigen Regelmäßigkeit grausamer Vergewaltigungen in Indien geändert. Der jüngste Weckruf lenkt nun die Aufmerksamkeit darauf, wie oft die Opfer Kinder sind. Kürzlich wurden innerhalb von zwei Tagen unabhängig voneinander drei Mädchen im Alter zwischen sieben und elf Jahren von Hochzeitsfeiern weggelockt, vergewaltigt und ermordet. Erst am Sonntag starb eine Sechsjährige – gut eine Woche nachdem sie in ihrer Schule vergewaltigt worden war.
In einer staatlichen Studie von 2007 gab ungefähr jedes zweite Kind an, sexuellen Missbrauch erfahren zu haben. 12.000 Kinder in mehreren Bundesstaaten waren befragt worden. „Anhand unserer Erfahrung würde ich die Zahl viel höher schätzen – auf etwa 85 bis 90 Prozent“, sagt Ashwini Ailawadi, Mitgründer der Rahi-Stiftung in Neu-Delhi. Die Organisation betreut erwachsene Frauen, die als Kinder Opfer sexuellen Missbrauchs wurden, und fördert das Bewusstsein für das Problem in der Öffentlichkeit. Nach offiziellen Statistiken wurden 2016 in Indien mehr als 19.000 Vergewaltigungen von Minderjährigen erfasst. Die Dunkelziffer dürfte sehr hoch sein, denn fast immer stammt der Täter aus dem Familienumfeld des Opfers – da fällt es noch schwerer, Anzeige zu erstatten, als ohnehin schon bei der oft korrupten oder gleichgültigen Polizei.
„Das indische Familiensystem begünstigt Missbrauch“, sagt Ailawadi. Den Kindern werde beigebracht, Älteren zu gehorchen und ihnen Respekt zu zollen. Ein Kind dürfe den Mund nicht aufmachen. „An wen wendet er oder sie sich also?“, fragt Ailawadi. Zumal die Rolle der Frau in indischen Familien die Sache erheblich erschwere: „Angenommen, der Täter ist der Vater oder ein älterer Mann in der Familie, von dem die Frau finanziell abhängig ist – die Frau hat keine Macht, es anzusprechen oder dem Kind zu helfen.“
Nach Ansicht der Soziologin Kalpana Kannabiran sind Vergewaltigungen oft „Machtausübung und Kriegsinstrument“. Damit kann die Macht von Männern über Frauen oder von Erwachsenen über Kinder gemeint sein. In Indien spielt sich Macht häufig auch zwischen Kasten und Religionen ab. Auch der brutale Sexualmord an der Achtjährigen im Himalaya hatte wohl mit Macht zu tun. Die acht hinduistischen Verdächtigen wollten nach Angaben der Polizei mit ihrem Verbrechen eine Gemeinde muslimischer Nomaden, zu denen das Mädchen gehörte, aus der Gegend vertreiben.
Bei all der sexuellen Gewalt in Indien hat dieser Fall auch deshalb besondere Empörung ausgelöst, weil radikale Hindus, darunter Politiker der Regierungspartei BJP, für die Freilassung der Verdächtigen demonstrierten. Premierminister Narendra Modi wurde auch international dafür kritisiert, dass er lange schwieg. Die Soziologin Kannabiran beobachtet in dessen Amtszeit seit 2014, dass Sexualverbrechen gegen Minderheiten nach ihrer Ansicht weniger verfolgt würden. Gewalt gegen Frauen, Korruption bei der Polizei und eine ineffektive Justiz seien immer schon ein Problem gewesen.