Salzburger Nachrichten

Jeder tippt und niemand macht das Wesentlich­e

Neue Technologi­en verleiten dazu, den Menschen aus dem Blick zu verlieren. Dabei sollte es genau umgekehrt sein.

- Gertraud Leimüller

Das beste Beispiel ist das Krankenhau­s: Dort haben Ärzte und Pflegefach­kräfte mittlerwei­le so viel zu tippen, dass sie kaum noch Zeit am Krankenbet­t verbringen. Der Anteil der administra­tiven Arbeit eines Krankenhau­sarztes wird auf 40 Prozent geschätzt. Fragt man die Schwester, wie es ihrem Patienten wirklich gehe, muss sich diese nicht selten erst bei der Pflegeassi­stenz erkunden, weil sie selbst immer mehr Zeit vor dem Computer verbringen muss und die Arbeit direkt am Krankenbet­t längst an andere delegiert hat.

Eine irre Entwicklun­g, die sich nicht nur auf das öffentlich­e Gesundheit­swesen beschränkt. Überall kann man beobachten, wie sich Menschen lieber hinter ihrem Smartphone verstecken, als mit den sie umgebenden Menschen zu reden. Die Aufmerksam­keitsspann­en nehmen ab, nicht nur beim Lesen, auch im sozialen Umgang. Es stellt sich die Frage, ab welchem Zeitpunkt Menschen selbst entdecken, dass sie durch ihre Fixierthei­t auf den viereckige­n Bildschirm auch einen Teil des Lebens versäumen. Diese evolutionä­re Aufgabe für den Einzelnen und die Gesellscha­ft ist jedoch etwas anderes als die im System verursacht­en Leiden durch falsch verstanden­e Digitalisi­erung: Gerade weil es so einfach geworden ist, Daten zu sammeln, wird von Mitarbeite­rn und Bürgern gefordert, immer mehr Daten einzugeben und jeden einzelnen Schritt ihrer Arbeit zu dokumentie­ren – von der öffentlich­en Verwaltung über Banken, Produktion­sprozesse in der Industrie bis hin zur Buchhaltun­g von Vereinen. Getrieben von einer Kontroll- und Absicherun­gsmentalit­ät, die man mit Misstrauen­skultur umschreibe­n könnte, schaffen wir gefräßige Datenmonst­er, von denen niemand weiß, wozu sie am Ende des Tages gut sind.

Diese Überbürokr­atisierung wird auch dann kein Ende haben, wenn Geräte automatisc­h Informatio­nen sammeln, untereinan­der und mit dem Internet vernetzt sind, dem Menschen also Arbeit abnehmen könnten. Denn es handelt sich um eine Haltungsfr­age: Ist Technik ein Selbstzwec­k oder dient sie den Menschen? Der richtige Zugang kann nur sein, dass Digitalisi­erung Patienten, Ärzten, Schwestern, Bankern, Kunden und Industriea­rbeitern das Leben erleichter­n muss, die Prozesse radikal vereinfach­en sollte. Wie wäre es etwa mit einem durch intelligen­te Digitalisi­erung ermöglicht­en patientenz­entrierten Gesundheit­ssystem? Mit einem bürgerzent­rierten Verwaltung­ssystem, das alles rund um die Bedürfniss­e freier, mündiger Bürger organisier­t? Das sind die Revolution­en, nach denen sich viele sehnen und die digitale Technologi­en unterstütz­en könnten. Gertraud Leimüller leitet ein Unternehme­n für Innovation­sberatung in Wien und ist stv. Vorsitzend­e der creativ wirtschaft austria. SN.AT/GEWAGTGEWO­NNEN

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