Jeder tippt und niemand macht das Wesentliche
Neue Technologien verleiten dazu, den Menschen aus dem Blick zu verlieren. Dabei sollte es genau umgekehrt sein.
Das beste Beispiel ist das Krankenhaus: Dort haben Ärzte und Pflegefachkräfte mittlerweile so viel zu tippen, dass sie kaum noch Zeit am Krankenbett verbringen. Der Anteil der administrativen Arbeit eines Krankenhausarztes wird auf 40 Prozent geschätzt. Fragt man die Schwester, wie es ihrem Patienten wirklich gehe, muss sich diese nicht selten erst bei der Pflegeassistenz erkunden, weil sie selbst immer mehr Zeit vor dem Computer verbringen muss und die Arbeit direkt am Krankenbett längst an andere delegiert hat.
Eine irre Entwicklung, die sich nicht nur auf das öffentliche Gesundheitswesen beschränkt. Überall kann man beobachten, wie sich Menschen lieber hinter ihrem Smartphone verstecken, als mit den sie umgebenden Menschen zu reden. Die Aufmerksamkeitsspannen nehmen ab, nicht nur beim Lesen, auch im sozialen Umgang. Es stellt sich die Frage, ab welchem Zeitpunkt Menschen selbst entdecken, dass sie durch ihre Fixiertheit auf den viereckigen Bildschirm auch einen Teil des Lebens versäumen. Diese evolutionäre Aufgabe für den Einzelnen und die Gesellschaft ist jedoch etwas anderes als die im System verursachten Leiden durch falsch verstandene Digitalisierung: Gerade weil es so einfach geworden ist, Daten zu sammeln, wird von Mitarbeitern und Bürgern gefordert, immer mehr Daten einzugeben und jeden einzelnen Schritt ihrer Arbeit zu dokumentieren – von der öffentlichen Verwaltung über Banken, Produktionsprozesse in der Industrie bis hin zur Buchhaltung von Vereinen. Getrieben von einer Kontroll- und Absicherungsmentalität, die man mit Misstrauenskultur umschreiben könnte, schaffen wir gefräßige Datenmonster, von denen niemand weiß, wozu sie am Ende des Tages gut sind.
Diese Überbürokratisierung wird auch dann kein Ende haben, wenn Geräte automatisch Informationen sammeln, untereinander und mit dem Internet vernetzt sind, dem Menschen also Arbeit abnehmen könnten. Denn es handelt sich um eine Haltungsfrage: Ist Technik ein Selbstzweck oder dient sie den Menschen? Der richtige Zugang kann nur sein, dass Digitalisierung Patienten, Ärzten, Schwestern, Bankern, Kunden und Industriearbeitern das Leben erleichtern muss, die Prozesse radikal vereinfachen sollte. Wie wäre es etwa mit einem durch intelligente Digitalisierung ermöglichten patientenzentrierten Gesundheitssystem? Mit einem bürgerzentrierten Verwaltungssystem, das alles rund um die Bedürfnisse freier, mündiger Bürger organisiert? Das sind die Revolutionen, nach denen sich viele sehnen und die digitale Technologien unterstützen könnten. Gertraud Leimüller leitet ein Unternehmen für Innovationsberatung in Wien und ist stv. Vorsitzende der creativ wirtschaft austria. SN.AT/GEWAGTGEWONNEN