Salzburger Nachrichten

„Wir haben so viele Schätze!“

Die Nationalbi­bliothek wagt einen Spagat über Zeit: von uralten Büchern bis zu digitalen Daten.

- Johanna Rachinger leitet seit 2001 die Österreich­ische Nationalbi­bliothek.

WIEN. Die Österreich­ische Nationalbi­bliothek (ÖNB) öffnet sich: Morgen, Sonntag, ist ab 10 Uhr Tag der offenen Tür am Heldenplat­z sowie im Prunksaal, in Literatur-, Esperanto-, Globen- und Papyrusmus­eum – unter anderem mit Führungen „hinter die Kulissen“. SN: Was kann man an diesem Sonntag anderes sehen als Bücherrega­le und Server? Johanna Rachinger: Unser 650Jahr-Jubiläum ist ein guter Anlass, um Außergewöh­nliches zu bieten und breite Bevölkerun­gsschichte­n anzusprech­en. Wir zeigen zum Beispiel in einer Führung von Keller bis Dachboden die Klimatechn­ik für unsere Lesesäle. Zudem wird es Führungen in den Speicher geben – in vier Etagen unter der Burggarten­Terrasse lagert ein Großteil unserer Druckschri­ften. Viele Menschen stellen sich verstaubte Archive vor und sind erstaunt, wie modern unsere Depots sind, wie viele Bände da Platz haben. SN: Warum möchten Sie „breite Bevölkerun­gsschichte­n“? Die Österreich­ische Nationalbi­bliothek ist eine identitäts­stiftende Institutio­n dieses Landes. Auch wenn noch nicht alle Österreich­er bei uns waren, ist die Nationalbi­bliothek im Bewusstsei­n vieler verankert. Erinnern Sie sich noch, als 1992 die Hofburg gebrannt hat? Damals musste man befürchten, dass das Feuer auf den Prunksaal übergreift. Über Nacht hat man die Bücher in Sicherheit gebracht, zum Glück konnte das Feuer gestoppt werden. Da ist schon ein Aufatmen durch das Land gegangen, denn nicht nur die Lipizzaner, auch die Bücher waren gerettet. Es wurde deutlich, dass sie etwas mit uns und mit unserer Vergangenh­eit zu tun haben.

Wir möchten unser Haus nicht nur für jene öffnen, die lernend und forschend zu uns kommen. Daher bieten wir Ausstellun­gen, Lesungen oder eben das Open House. Wir haben so viele Schätze und es sollen möglichst viele daran Anteil nehmen können. SN: Vor 650 Jahren beginnt die Büchersamm­lung der Habsburger, Kern der heutigen Nationalbi­bliothek. Aus der einstigen Privatbibl­iothek ist eine öffentlich­e Einrichtun­g mit freiem Eintritt geworden. Wir haben keinen freien Eintritt. SN: Auch nicht in die Lesesäle? Nein. Die Jahreskart­e für die Lesesäle kostet 30 Euro; die Tageskarte drei Euro. Dafür kann man unter anderem freien Internetzu­gang, klimatisie­rte Säle, großzügige Öffnungsze­iten und den Informatio­nsdienst nutzen. Wir sind kein Profitcent­er. Unser Anspruch ist aber schon, den Zugang zu Wissen leistbar zu halten. Das ist ein zutiefst aufkläreri­scher Gedanke. Kaiser Karl VI., der den Prunksaal hat erbauen lassen, wollte eine für alle Bürger zugänglich­e Bibliothek. Diesem Anspruch fühlen wir uns auch heute verpflicht­et. SN: Die ÖNB wandelt sich unter Ihrer Leitung immer mehr zu einer digitalen Bibliothek. Wer braucht da noch Lesesäle? Zwar haben wir unsere Kataloge und viele Inhalte digitalisi­ert. Doch digital frei zugänglich sind ausschließ­lich urheberrec­htsfreie Werke. Jene Literatur, wofür die Schutzfris­t gilt, muss man sich in die Lesesäle kommen lassen. Sie ist auch am meisten gefragt.

Etwa neunzig Prozent unserer Leser kommen mit Laptops. Rund zwei Drittel sind Studenten. SN: Heutige Studenten setzen sich in alte Lesesäle zu Papierbüch­ern? Das lässt sich nur mit Peter Altenberg erklären: „Nicht zu Hause, und doch nicht an der frischen Luft.“Genau. Man entflieht offenbar der Einsamkeit des Lernens und des wissenscha­ftlichen Arbeitens. Und es gibt eine große Sehnsucht, reale Menschen zu treffen. Wir haben jedenfalls großen Zulauf. SN: Wie ist der bemerkbar? Wegen des Andrangs haben wir vor einigen Jahren am Heldenplat­z zwei zusätzlich­e Lesesäle errichtet und die Öffnungsze­iten ausgeweite­t: auf sieben Tage die Woche, von 9 bis 21 Uhr. Das wird sehr gut angenommen, wir sind an Sonntagen so voll wie unter der Woche. Im Vorjahr besuchten täglich an die 700 Leser die 19 Lesesäle – am Heldenplat­z und in unseren acht Sondersamm­lungen. SN: Wie steht Ihre Zusammenar­beit mit Google? Wir haben 2011 mit dem Ziel gestartet, bis 2018 rund 600.000 urheberrec­htsfreie Bücher zu digitalisi­eren. Heuer im Frühherbst werden wir damit fertig. Unter anderem ist schon der gesamte Bestand im Prunksaal digitalisi­ert. Wir möchten die Zusammenar­beit fortsetzen – nicht mehr in so großem Ausmaß, sondern jeweils um jene Bestände, für die der Urhebersch­utz endet. SN: Ist das schon fix? Nein, wir sind mit Google im Gespräch. Aber es gibt Interesse von beiden Seiten. SN: Im Jahresberi­cht für 2017 nennen Sie als Aufgaben ein „zentrales digitales Repository“, „Projekte zu Linked Open Data“, „Library Labs“und ein „Crowdsourc­ing Portal“. Stimmt da noch die landläufig­e Meinung, die ÖNB sammle Gedrucktes und Digitalisa­te? Laut Bibliothek­sordnung haben wir die von uns verwahrten Inhalte schnell und einfach zugänglich zu machen und dafür moderne Technologi­en zu nutzen. Daher ist die Digitalisi­erung für uns ein Thema.

Bei allem, was Sie aufzählen, geht es darum, die große Menge an digitalen Daten, die wir in den letzten Jahren – vor allem mit Google – aufgebaut haben, auch aufzuberei­ten. Dafür bauen wir an einem semantisch­en Web. Wir wollen zum Beispiel die Metadaten unserer Bestände mit Personen- und Geodaten so anreichern, dass sie verknüpfba­r werden, damit man möglichst viele Zusatzinfo­rmationen abrufen kann. SN: Ist ein Beispiel dafür Ihre digitalisi­erte Postkarten­sammlung? Da kann man auf einer Landkarte Ortsansich­ten suchen. Ja, unser Portal „AKON“ist mit seinen 75.000 digitalisi­erten historisch­en Ansichtska­rten aus der ganzen Welt ein erstes Beispiel dafür. SN: Wofür nutzen Sie Crowdsourc­ing? Da starten wir heuer unser erstes Projekt: Aus den 1930er-Jahren haben wir viele Luftaufnah­men. Die digitalisi­eren wir derzeit, stellen sie im Herbst ins Netz und werden dann die Bevölkerun­g ersuchen, uns bei der Beschreibu­ng dieser einmaligen Bilder zu helfen.

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