„Wir haben so viele Schätze!“
Die Nationalbibliothek wagt einen Spagat über Zeit: von uralten Büchern bis zu digitalen Daten.
WIEN. Die Österreichische Nationalbibliothek (ÖNB) öffnet sich: Morgen, Sonntag, ist ab 10 Uhr Tag der offenen Tür am Heldenplatz sowie im Prunksaal, in Literatur-, Esperanto-, Globen- und Papyrusmuseum – unter anderem mit Führungen „hinter die Kulissen“. SN: Was kann man an diesem Sonntag anderes sehen als Bücherregale und Server? Johanna Rachinger: Unser 650Jahr-Jubiläum ist ein guter Anlass, um Außergewöhnliches zu bieten und breite Bevölkerungsschichten anzusprechen. Wir zeigen zum Beispiel in einer Führung von Keller bis Dachboden die Klimatechnik für unsere Lesesäle. Zudem wird es Führungen in den Speicher geben – in vier Etagen unter der BurggartenTerrasse lagert ein Großteil unserer Druckschriften. Viele Menschen stellen sich verstaubte Archive vor und sind erstaunt, wie modern unsere Depots sind, wie viele Bände da Platz haben. SN: Warum möchten Sie „breite Bevölkerungsschichten“? Die Österreichische Nationalbibliothek ist eine identitätsstiftende Institution dieses Landes. Auch wenn noch nicht alle Österreicher bei uns waren, ist die Nationalbibliothek im Bewusstsein vieler verankert. Erinnern Sie sich noch, als 1992 die Hofburg gebrannt hat? Damals musste man befürchten, dass das Feuer auf den Prunksaal übergreift. Über Nacht hat man die Bücher in Sicherheit gebracht, zum Glück konnte das Feuer gestoppt werden. Da ist schon ein Aufatmen durch das Land gegangen, denn nicht nur die Lipizzaner, auch die Bücher waren gerettet. Es wurde deutlich, dass sie etwas mit uns und mit unserer Vergangenheit zu tun haben.
Wir möchten unser Haus nicht nur für jene öffnen, die lernend und forschend zu uns kommen. Daher bieten wir Ausstellungen, Lesungen oder eben das Open House. Wir haben so viele Schätze und es sollen möglichst viele daran Anteil nehmen können. SN: Vor 650 Jahren beginnt die Büchersammlung der Habsburger, Kern der heutigen Nationalbibliothek. Aus der einstigen Privatbibliothek ist eine öffentliche Einrichtung mit freiem Eintritt geworden. Wir haben keinen freien Eintritt. SN: Auch nicht in die Lesesäle? Nein. Die Jahreskarte für die Lesesäle kostet 30 Euro; die Tageskarte drei Euro. Dafür kann man unter anderem freien Internetzugang, klimatisierte Säle, großzügige Öffnungszeiten und den Informationsdienst nutzen. Wir sind kein Profitcenter. Unser Anspruch ist aber schon, den Zugang zu Wissen leistbar zu halten. Das ist ein zutiefst aufklärerischer Gedanke. Kaiser Karl VI., der den Prunksaal hat erbauen lassen, wollte eine für alle Bürger zugängliche Bibliothek. Diesem Anspruch fühlen wir uns auch heute verpflichtet. SN: Die ÖNB wandelt sich unter Ihrer Leitung immer mehr zu einer digitalen Bibliothek. Wer braucht da noch Lesesäle? Zwar haben wir unsere Kataloge und viele Inhalte digitalisiert. Doch digital frei zugänglich sind ausschließlich urheberrechtsfreie Werke. Jene Literatur, wofür die Schutzfrist gilt, muss man sich in die Lesesäle kommen lassen. Sie ist auch am meisten gefragt.
Etwa neunzig Prozent unserer Leser kommen mit Laptops. Rund zwei Drittel sind Studenten. SN: Heutige Studenten setzen sich in alte Lesesäle zu Papierbüchern? Das lässt sich nur mit Peter Altenberg erklären: „Nicht zu Hause, und doch nicht an der frischen Luft.“Genau. Man entflieht offenbar der Einsamkeit des Lernens und des wissenschaftlichen Arbeitens. Und es gibt eine große Sehnsucht, reale Menschen zu treffen. Wir haben jedenfalls großen Zulauf. SN: Wie ist der bemerkbar? Wegen des Andrangs haben wir vor einigen Jahren am Heldenplatz zwei zusätzliche Lesesäle errichtet und die Öffnungszeiten ausgeweitet: auf sieben Tage die Woche, von 9 bis 21 Uhr. Das wird sehr gut angenommen, wir sind an Sonntagen so voll wie unter der Woche. Im Vorjahr besuchten täglich an die 700 Leser die 19 Lesesäle – am Heldenplatz und in unseren acht Sondersammlungen. SN: Wie steht Ihre Zusammenarbeit mit Google? Wir haben 2011 mit dem Ziel gestartet, bis 2018 rund 600.000 urheberrechtsfreie Bücher zu digitalisieren. Heuer im Frühherbst werden wir damit fertig. Unter anderem ist schon der gesamte Bestand im Prunksaal digitalisiert. Wir möchten die Zusammenarbeit fortsetzen – nicht mehr in so großem Ausmaß, sondern jeweils um jene Bestände, für die der Urheberschutz endet. SN: Ist das schon fix? Nein, wir sind mit Google im Gespräch. Aber es gibt Interesse von beiden Seiten. SN: Im Jahresbericht für 2017 nennen Sie als Aufgaben ein „zentrales digitales Repository“, „Projekte zu Linked Open Data“, „Library Labs“und ein „Crowdsourcing Portal“. Stimmt da noch die landläufige Meinung, die ÖNB sammle Gedrucktes und Digitalisate? Laut Bibliotheksordnung haben wir die von uns verwahrten Inhalte schnell und einfach zugänglich zu machen und dafür moderne Technologien zu nutzen. Daher ist die Digitalisierung für uns ein Thema.
Bei allem, was Sie aufzählen, geht es darum, die große Menge an digitalen Daten, die wir in den letzten Jahren – vor allem mit Google – aufgebaut haben, auch aufzubereiten. Dafür bauen wir an einem semantischen Web. Wir wollen zum Beispiel die Metadaten unserer Bestände mit Personen- und Geodaten so anreichern, dass sie verknüpfbar werden, damit man möglichst viele Zusatzinformationen abrufen kann. SN: Ist ein Beispiel dafür Ihre digitalisierte Postkartensammlung? Da kann man auf einer Landkarte Ortsansichten suchen. Ja, unser Portal „AKON“ist mit seinen 75.000 digitalisierten historischen Ansichtskarten aus der ganzen Welt ein erstes Beispiel dafür. SN: Wofür nutzen Sie Crowdsourcing? Da starten wir heuer unser erstes Projekt: Aus den 1930er-Jahren haben wir viele Luftaufnahmen. Die digitalisieren wir derzeit, stellen sie im Herbst ins Netz und werden dann die Bevölkerung ersuchen, uns bei der Beschreibung dieser einmaligen Bilder zu helfen.