Wenn Paradiese verloren gehen
Während sich Intellektuelle im Rahmen der Europäischen Toleranzgespräche mit dem Zerplatzen von Reiseträumen auseinandersetzten, fragte sich Kärntens oberster Tourismuswerber: Was hat Overtourism mit uns zu tun?
Vor 50 Jahren war Kärnten der Nabel der Reisewelt. Franz Lauritsch aus Landskron schildert in der Ausstellung „Zimmer frei“im Villacher Stadtmuseum seine Erinnerungen so: „Wir haben ein ,Zimmer frei‘-Schild aufgestellt und selbst als Familie in der Garage geschlafen.“Für Kurator Werner Koroschitz ist das „eine typische Aussage aus der Hochblüte des Gästeandrangs“, wie er anlässlich der Europäischen Toleranzgespräche feststellte. Heute würden auf der Jagd nach Traumbildern überwiegend Urlaubsparadiese angesteuert, die zu einem Drittel in Entwicklungsländern liegen.
Und doch ist Europa der Sehnsuchtsort für die Welt geblieben. „Insbesondere einige EU-Staaten werden mit Frieden, Toleranz und Wohlstand gleichgesetzt und erwecken die Sehnsucht, hier zu leben“, skizzierte der ehemalige EU-Parlamentarier Hannes Swoboda als Kuratoriumspräsident der Europäischen Toleranzgespräche die Auslöser von Migrationsströmen.
Doch im Gegenzug beschäftigte sich die vom Europäischen Toleranzzentrum Denk.Raum.Fresach organisierte Veranstaltung auch mit den Sehnsuchtsorten der Europäer, die sie in ihrer Freizeit aufsuchen. „Urlaub ist ihnen ein Reservoir der Sehnsüchte, glücklich machender Fernraum und in diesem Sinne ein Quantum Trost“, formulierte es Kurt Luger. Der Kommunikationswissenschafter mit dem UNESCOLehrstuhl für kulturelles Erbe und Tourismus an der Universität Salzburg brachte die Verbindung zwischen dem bestaunten Fremden und der Angst vor Neuem im Alltag zuwege. „Fremdenangst ist frühkindlich geprägt, mit der Pubertät beginnt das bewusste Erweitern der Grenzen“, sagt Luger.
Dass in der in Villach abgehaltenen Diskussion zwischen den Grenzen touristischen Wachstums („Paradise lost?“) und der Zukunft des Reisens („Paradise now“) die kritischen Töne überwogen, verärgerte den Leiter der Kärnten Werbung, Christian Kresse. Es werde immer Tourismus-Bashing betrieben, aber das Geld müsse auch von irgendwo reinkommen, kritisierte er und meinte: „Philosophische Diskussionen über Massentourismus – da fragen wir uns in Kärnten: Haben wir keine anderen Probleme?“Bei der Erschließung der Berge und dem Bettenangebot sei man in Kärnten längst nicht auf dem Zenit. „Wir haben in den vergangenen Jahrzehnten 85.000 Gästebetten eingebüßt, aber 75.000 Betten in Zweitwohnsitzen dazugewonnen. Das Land verscherbelt sein Hab und Gut.“
Und doch sind die in der Diskussion angesprochenen massentouristischen Phänomene in den maritimen Städten auch in Österreich keineswegs so fern, wie manche denken. Tourismusberater Manfred Kohl warnt davor, das Bild nur auf zusammengepferchte Menschenmassen in Venedig, Dubrovnik oder Barcelona zu reduzieren: „Overtourism ist nicht rational, sondern pure Emotion. So wird die Lärmmaschine Harley-Treffen in der Region positiv, das GTI-Treffen aber extrem negativ aufgenommen.“Man müsse überall aufpassen, dass die Tourismusgesinnung nicht kippe. Das sei schon seit Jost Krippendorfs Buch „Ferienmenschen“(1986) bekannt.
Nicht nur in diesen Wortmeldungen wurde die politische Dimension der Auseinandersetzung mit dem Reisen klar. Gerade die „Zimmer frei“-Ausstellung illustriert, dass es in der Geschichte (noch) nie Touristenmassen waren, deren Auftreten das Interesse an Traumzielen zerstörte, sondern politische Maßnahmen. So widmete Kurator Koroschitz einen großen Teil von Vortrag und Ausstellung dem Ende des ersten Kärntner Tourismusbooms, etwa der schon im 19. Jahrhundert einsetzenden Germanisierung der Region mithilfe des Fremdenverkehrs. So wuchs der Anteil der deutschsprachigen Bevölkerung von 1880 auf 1890 in Pörtschach um das Vierfache. Ähnlich dramatisch wie die antislowenische war die 30 Jahre später einsetzende antisemitische Dimension des Tourismus. „In der Saison willkommener Urlaubsgast, war ich sonst der Saujud“, zitierte Koroschitz einen englischen Major. In zahlreichen Ausstellungsstücken werden antijüdische Exzesse dokumentiert, und nach 1945 habe man sich den wenigen als Gäste zurückkehrenden Juden gelassen und unverbindlich genähert. „Als ob nichts geschehen wäre“, sagt Koroschitz. Auf dieser Basis und fast ohne Restitutionen wurde der mit den Wörtherseefilmen einsetzende Touristenboom begründet.
In den heute überlasteten Tourismuszentren könnten moderne Technologien trotz weiterhin anwachsender Touristenströme helfen, paradiesische Illusionen zu wahren. In diese Richtung argumentiert die Hamburger Zukunftsforscherin Birgit Gebhardt. So installiert Dubrovnik eine App, durch die Gäste den Massenansturm auf der Stadtmauer rechtzeitig erken- nen können. Andererseits gibt es auch brachiale Maßnahmen wie in Amsterdam, wo keine neuen Nachtclubund Fast-Food-Lizenzen mehr vergeben werden. Mit der Gefahr, die Attraktivität der Destination im Gefolge der über Overtourism klagenden Bevölkerung vielleicht derart zu reduzieren, dass die Tourismuswerber nicht mehr „Erlebnisraumbewirtschaftung“, wie Kresse seine Aufgabe sieht, sondern doch wieder Marketing betreiben müssen. Den Status quo beschreibt Gebhardt so: „Die nächste Generation lebt in der Kulisse, fürs Posing. Sie agiert aufs Ego bezogen: Was ist wie für mich verwertbar?“So werde auch das Reisen auf den Eigennutzen reduziert. Wobei Luger zwischen Reisen und Tourismus unterscheidet: „Offen auf das Fremde zugehen, Neues zulassen – können Touristen das überhaupt? Touristen vergleichen stets mit dem Bekannten, mit imaginierten Geografien.“Alles müsse den Erwartungen des Touristen entsprechen, während das Reisen die Gefahr des Scheiterns beinhalte.
„Urlaub ist ein Reservoir der Sehnsüchte.“Kurt Luger, Tourismusforscher