Wenn Europa den Balkan vergisst
Der 6. Juni ist die letzte Chance für die kleinen Länder im Südosten.
„Europas Wartesäle haben keinen Ausgang“, titelte vergangene Woche die albanische Tageszeitung „Gazeta Shqiptare“. Fast zwei Jahrzehnte lang war die Beitrittsperspektive für die sechs kleinen Staaten im Südosten der wichtigste Impuls für Frieden, Stabilität und Reformen. Noch als mit neuen Verzögerungen die Hoffnung in immer weitere Ferne rückte, reichte sie aus, um etwa das kleine Mazedonien von einem diktatorischen Irrweg wieder auf den Pfad der Demokratie zurückzuführen. Kein Regime in der Region konnte es sich leisten, mit Brüssel oder Berlin zu brechen. In allen Balkanländern genossen die Mächtigen in Europa mehr Vertrauen als die Mächtigen im eigenen Land. Solange sie am Brüsseler Zügel gingen, meinte man, würden sich die Politiker nicht zu sehr verlaufen. Doch schon zuletzt haben sich die Mächtigen in den südosteuropäischen Staaten diskret nach Back-up-Lösungen umgesehen und ihre Beziehungen nach Moskau, Ankara und Peking gepflegt. Das war keine Abkehr von Europa, wie immer wieder geargwöhnt wurde.
Vielmehr stellten sich die Eliten auf dem Balkan auf eine neue Beziehung zur EU ein. Sollte es beim EU-Gipfel am 6. Juni nicht doch noch grünes Licht für den Verhandlungsbeginn mit Albanien und Mazedonien geben, ist klar: Die Westbalkanländer gelten nicht mehr als künftige Mitglieder, sondern als „Partner“. Geld fließt weiterhin, das wurde versichert. Die Gegenleistung: Der Balkan soll Europa die Flüchtlinge vom Hals halten. Das ist der Klartext zu der Rhetorik der Sicherheitsfragen und der Terrorbekämpfung, die die Beziehungen nun dominiert. Wie die „Partner“das machen, will man in Europa dann gar nicht mehr so genau wissen. Waffen, Nachtsichtgeräte, Subventionen, aber keine Kontrolle: Für Oligarchen, Lokalfürsten, „Demokratoren“ist das eine verlockende Aussicht. Für ihre Untertanen nicht; sie werden in größerer Zahl als bisher schon ihren individuellen EU-Beitritt vollziehen und sich Arbeit und Ausbildung in Deutschland, Österreich oder anderswo im Westen suchen.
Die nationalen Eliten aber werden die Konflikte mit den Nachbarn wieder schüren, statt sie zu lösen versuchen. Das ist aus ihrer Sicht nur vernünftig: Je kritischer die Lage, desto größer Europas Bereitschaft, sich finanziell zu engagieren. Und richtig bei der Sache ist es erst, wenn wieder geschossen wird.