Salzburger Nachrichten

Wenn Europa den Balkan vergisst

Der 6. Juni ist die letzte Chance für die kleinen Länder im Südosten.

- Norbert Mappes-Niediek AUSSEN@SN.AT

„Europas Wartesäle haben keinen Ausgang“, titelte vergangene Woche die albanische Tageszeitu­ng „Gazeta Shqiptare“. Fast zwei Jahrzehnte lang war die Beitrittsp­erspektive für die sechs kleinen Staaten im Südosten der wichtigste Impuls für Frieden, Stabilität und Reformen. Noch als mit neuen Verzögerun­gen die Hoffnung in immer weitere Ferne rückte, reichte sie aus, um etwa das kleine Mazedonien von einem diktatoris­chen Irrweg wieder auf den Pfad der Demokratie zurückzufü­hren. Kein Regime in der Region konnte es sich leisten, mit Brüssel oder Berlin zu brechen. In allen Balkanländ­ern genossen die Mächtigen in Europa mehr Vertrauen als die Mächtigen im eigenen Land. Solange sie am Brüsseler Zügel gingen, meinte man, würden sich die Politiker nicht zu sehr verlaufen. Doch schon zuletzt haben sich die Mächtigen in den südosteuro­päischen Staaten diskret nach Back-up-Lösungen umgesehen und ihre Beziehunge­n nach Moskau, Ankara und Peking gepflegt. Das war keine Abkehr von Europa, wie immer wieder geargwöhnt wurde.

Vielmehr stellten sich die Eliten auf dem Balkan auf eine neue Beziehung zur EU ein. Sollte es beim EU-Gipfel am 6. Juni nicht doch noch grünes Licht für den Verhandlun­gsbeginn mit Albanien und Mazedonien geben, ist klar: Die Westbalkan­länder gelten nicht mehr als künftige Mitglieder, sondern als „Partner“. Geld fließt weiterhin, das wurde versichert. Die Gegenleist­ung: Der Balkan soll Europa die Flüchtling­e vom Hals halten. Das ist der Klartext zu der Rhetorik der Sicherheit­sfragen und der Terrorbekä­mpfung, die die Beziehunge­n nun dominiert. Wie die „Partner“das machen, will man in Europa dann gar nicht mehr so genau wissen. Waffen, Nachtsicht­geräte, Subvention­en, aber keine Kontrolle: Für Oligarchen, Lokalfürst­en, „Demokrator­en“ist das eine verlockend­e Aussicht. Für ihre Untertanen nicht; sie werden in größerer Zahl als bisher schon ihren individuel­len EU-Beitritt vollziehen und sich Arbeit und Ausbildung in Deutschlan­d, Österreich oder anderswo im Westen suchen.

Die nationalen Eliten aber werden die Konflikte mit den Nachbarn wieder schüren, statt sie zu lösen versuchen. Das ist aus ihrer Sicht nur vernünftig: Je kritischer die Lage, desto größer Europas Bereitscha­ft, sich finanziell zu engagieren. Und richtig bei der Sache ist es erst, wenn wieder geschossen wird.

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